„Präsident Putin hat die ­Notbremse gezogen“

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Der Autor und ehemalige Bundeswehr-General Gerd Schultze-Rhonhof über die Ursachen des Ukraine-Konflikts und die beschämenden Rollen, die die darin verwickelten Mächte gespielt haben.

Ihr Buch über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat den Titel „Der Krieg, der viele Väter hatte“. Wie viele Väter hat der Krieg bzw. Konflikt in der Ukraine?
Schultze-Rhonhof: Das sind acht Staaten und Staatenbündnisse, die hier zu nennen sind, nämlich Deutschland und Frankreich als erfolglose Warner und Vermittler, die USA, die NATO und die EU als Falschspieler und Russland, die Ukraine und die Oblaste Donezk und Lugansk als die, die mit dem Feuer gespielt haben.
Eines möchte ich noch hinzufügen: Das ganze Desaster begann mit einem glücklichen Ereignis, der deutschen Wiedervereinigung. Ein Teil des Preises dafür war die Zusage des amerikanischen Außenministers Baker gegenüber Herrn Gorbatschow am 8. Februar 1990, dass „die NATO keinen Inch weiter nach Osten vorrücken“ werde. Diese Zusage wurde am 17. Mai 1990 vom deutschen NATO-Generalsekretär Wörner bestätigt und später noch einmal von unserem Außenminister Genscher in Bakers Beisein. Diese letzte Zusicherung ist heute noch als Youtube-Film im Internet zu sehen. Dieser Preis für die Wiedervereinigung ist nie bezahlt worden. Nun hat Putin die Rechnung dafür aufgemacht.

Gerd ­Schultze-Rhonhof, geb. 1939 in Weimar, verheiratet, drei Töchter, von 1959 bis 1996 Soldat, zuletzt Divisionskommandeur und militärischer Befehls­haber im Wehr­bereich Niedersachsen. Im Ruhestand Autor mehrerer Bücher über das Entstehen des Zweiten Weltkriegs.

Damals in den 90er Jahren war die geopolitische Lage ja eine ganz andere. Die Sowjet­union war auseinandergebrochen. Russland war schwach und hatte mit sehr vielen internen Problemen zu kämpfen. Mittlerweile ist Russland aber ein selbstbewusstes Land. Haben das vielleicht die Amerikaner unterschätzt und sich gedacht, sie könnten weitermachen wie bisher?
Schultze-Rhonhof: Die Amerikaner haben immer noch einen gewaltigen Vorsprung vor den Russen. Sie haben wohl geglaubt, sie könnten sich den Bruch Ihres Versprechens leisten. Sie haben sich dabei im Fall des NATO-Wunschs der Ukrainer und der Abspaltung der zwei Oblaste mit mehrheitlich russischer Bevölkerung außerdem auf ein Prinzip berufen und verlassen, das sie viele Male in Südamerika und im Nahen Osten selbst skrupellos missachtet haben: die territoriale Integrität anderer Staaten.

Wenn Sie gerade die territoriale Integrität erwähnen: Ein anderes Prinzip des Völkerrechts, das zur territorialen Integrität gehört, ist die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Nun gibt es Hinweise, dass die Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle beim Maidan-Putsch 2014 gespielt haben.
Schultze-Rhonhof: Das war und ist ein undurchsichtiges Geschehen. Es ist durchaus möglich, dass die Amerikaner beim Maidan-Putsch ihre Finger im Spiel hatten – vielleicht auch die Engländer – um die Revolution gegen den damaligen Präsident Janukowitsch zu befeuern. Inzwischen haben einige ausländische Scharfschützen ausgesagt, dass sie damals von den Dächern rund um den Maidan-Platz sowohl auf Demonstranten als auch auf Polizisten geschossen und damit die Wut der Parteien gegeneinander angeheizt haben. Ich habe mir damals ab 2014 öfter Zahlen aus den Medien über Ausländerentsendungen in die Ukraine notiert, z. B. 150 Söldner der privaten amerikanischen Militärfirma Greystone in ukrainischen Uniformen, später 400 Söldner des US-Militärdienstleisters Academy (vormals Blackwater, Anm.). Ein anderes Mal waren es 75 britische Militärausbilder. Staaten, die Söldner entsenden, können immer sagen, dass sie kein Militär eingesetzt haben, und sie brauchen sich dann auch nicht für die Kriegsvölkerrechts-Verstöße ihrer Söldner zu rechtfertigen.

In der Ukraine verbinden sich die ­nationalen Interessen der USA mit den Vermögensinteressen der Familie Biden.

Warum sind die USA eigentlich so sehr auf die Ukraine fixiert?
Schultze-Rhonhof: Es geht um den Hegemonialanspruch der USA in Europa und um massive wirtschaftliche Interessen. Die Ukraine hat wichtige Bodenschätze und sie ist ein beachtlicher Exportmarkt. Denken Sie einmal an die Treuhand, die in Deutschland die „DDR“-Wirtschaft abgewickelt hat. Damals winkten ausländischen Glücksrittern die Übernahmen von Firmen und Unternehmen zu Schleuderpreisen. So etwas winkt auch heute finanzstarken Ausländern in der finanzschwachen Ukraine. Als Beispiel für Glücksritter können Sie den Sohn von US-Präsident Biden, Hunter Biden, nehmen, der heute im Aufsichtsrat der größten ukrainischen Gasfirma Burisma sitzt. Er erhält als Vergütung für je 1.000 Kubikmeter Erdgas, das durch die Rohre von Burisma läuft, einen festgelegten Dollarbetrag. Hier verbinden sich sogar noch familiäre Vermögensinteressen der Familie Biden mit den nationalen Wirtschaftsinteressen der USA.
Warum hat sich der Streit um den Einfluss in der Ukraine jetzt so hochgeschraubt, eskaliert bis zu einem Krieg.
Schultze-Rhonhof: Das war eine lange Entwicklung, angefangen mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zerfall der Sowjetunion. 1990 war die Wiedervereinigung mit dem amerikanischen Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung erkauft worden. Diese Zusage wurde nicht eingehalten. 2001 hat Putin eine gesamteuropäische Freihandelszone einschließlich Russlands vorgeschlagen. Da wurde er abgewiesen. 2007 hat Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine weitere Osterweiterung auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als das „Überschreiten einer roten Linie“ bezeichnet. Er wurde nicht ernst genommen. 2008 beantragten die USA die Aufnahme der Ukraine in die NATO, was dankenswerter Weise am Veto Frankreichs und Deutschlands gescheitert ist.

Soweit ist doch alles friedlich verlaufen.
Schultze-Rhonhof: Es ging ja weiter. 2013 bot die EU der Ukraine einen Assoziierungsvertrag an, und 2014 äußerte der neue westorientierte Präsident Poroschenko den Wunsch eines NATO-Beitritts der Ukraine. Nun läuteten die Alarmglocken im Kreml. Putin war klar, dass nach der EU die NATO und mit ihr die Amerikaner auf der Krim einziehen und die US-Navy den russischen Kriegshafen Sewastopol übernehmen würde, wenn es soweit käme. Er zog die Reißleine und annektierte die Halbinsel Krim mit ihrer überwiegend russischen Bevölkerung. Die Bevölkerung der Krim hatte sich übrigens schon 1991 bei der Abspaltung der Ukraine in einem Referendum mit 93 % für einen Verbleib bei Russland entschieden.
Bald nach der Übernahme der Krim durch Russland wollten sich auch die zwei mehrheitlich russisch bevölkerten Oblaste Lugansk und Donezk von der Ukraine lösen. Sie erklärten ihre Unabhängigkeit, und es kam zu dem nun acht Jahre währenden Bürgerkrieg im Osten der Ukraine. Auf Vermittlung von Frankreich und Deutschland kam es 2015 zum Minsker Abkommen zwischen der Ukraine und Russland als der Schutzmacht der zwei abtrünnigen Oblaste. Das Abkommen sah eine Waffenruhe und ein Gesetz über den Sonderstatus für Lugansk und Donezk innerhalb der Ukraine vor. Stattdessen erließ die Kiewer Regierung 2018 ein „Reintegrationsgesetz“ für die zwei Oblaste, verbot jegliche Verhandlungen mit ihnen und den Gebrauch ihrer russischen Muttersprache in den Schulen. Der Bürgerkrieg im Osten der Ukraine ging unvermindert weiter. Putin sah sowohl das Leiden der Bevölkerung im Kriegsgebiet und den Unwillen der Kiewer Regierung, das Abkommen von Minsk mit der Teilautonomie von Lugansk und Donezk einzulösen, und er beobachtete das stete Drängen aus Kiew, in die NATO aufgenommen zu werden. Ein großes NATO-Mitglied direkt an Russlands Grenze war und ist mit Russlands vitalem Sicherheitsinteresse nach Putins Auffassung nicht vereinbar. So ordnete er einen Drohaufmarsch an der Grenze zur Ukraine an und forderte den US-Präsident im Dezember 2021 zweimal auf, dauerhaft auf die Aufnahme der Ukraine in die NATO zu verzichten. Beiden hat das abgelehnt. Und wieder hat Putin die Reißleine gezogen.

Sehen Sie die Gefahr, dass sich dieser Konflikt in einen Flächenbrand ausdehnen könnte?
Schultze-Rhonhof: Diese Gefahr will ich nicht in Abrede stellen, aber ich halte das für unwahrscheinlich. Wenn Russland die Ukraine in irgendein Abhängigkeitsverhältnis zwingt, hat es damit schon ein gewaltiges Problem am Hals. Sich dann aber auch noch kriegerisch mit der NATO anzulegen, würde Russland überfordern. Ich halte Putin für einen kühlen Rechner. Das wird er nicht tun. Putin hat immer wieder verlangt, dass zwei Dinge ins Lot gebracht werden: erstens der Verzicht auf eine Aufnahme der Ukraine in die NATO und zweitens die Beruhigung des Donbass mit dem Ende des dortigen Bürgerkriegs. In ein paar Wochen wird er beides erreicht haben.

Sich auch noch kriegerisch mit der NATO anzulegen, würde Russland überfordern. Das wird Putin nicht tun.

Es fällt auf, dass die Europäische Union nur das von sich gibt, was auch die USA sagen. Ist das nicht bedenklich, schließlich geht es ja beim Ukraine-Konflikt auch um die Sicherheit Europas?
Schultze-Rhonhof: Die EU ist in dieser Hinsicht ein Wachhund ohne Zähne. Sie hat in dieser Krise keine Rolle gespielt und keine förderlichen Impulse gegeben.
Die einzigen förderlichen Impulse aus Europa kamen aus Frankreich und Deutschland mit den zwei Minsker Konferenzen. Ansonsten ist der EU-Kommission nicht mehr eingefallen als Drohungen mit Sanktionen, die der europäischen Bevölkerung noch sehr teuer auf die Füße fallen werden.
Wenn es einen einziger Staatsmann von strategischem Verstand und dem erforderlichen Durchsetzungsvermögen im NATO­-Hauptquartier oder in der EU-Kommission gegeben hätte, wäre die Ukraine rechtzeitig finnlandisiert, das heißt, vertraglich für neutral erklärt worden, wie einst die Schweiz, Österreich und Finnland.

In den Medien heißt es jetzt „Das ist Putins Krieg.“ Sehen Sie das auch so?
Schultze-Rhonhof: Das klingt wie eine einseitige Schuldzuweisung, die, so kernig ausgedrückt, nicht stimmt.
Als Autor des Buchs „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ denke ich, dass nicht nur der die Schuld an einem Krieg trägt, der ihn eröffnet hat, sondern auch der, der ihn vorher mit verursacht hat.

Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.

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