Autor: André Hagel Bilder: Wikipedia/Michael Künne, PRESSCOV picture agency Lizenz: CC BY-SA 3.0 DEED
Wie wir unsere Lebenslügen mit ethnischen Konflikten im Land bezahlen
Nein, ich wundere mich nicht über die Bilder, die dieser Tage über bundesdeutsche TV-Bildschirme laufen und die in Zeitungen und im Internet ihren Niederschlag finden. Ich möchte nicht anmaßend oder selbstgerecht klingen, aber: Es ist nicht das erste Mal, dass wir in Deutschland so etwas oder ähnliches zu Gesicht bekommen. Und es war abzusehen, dass es so oder ähnlich wieder geschehen würde.
Wir sollten aufhören, uns in Erschrockenheit und Verstörtheit zu ergehen, uns in rituellen Empörungs- und gleichzeitig Beschwichtigungsfloskeln zu erschöpfen. Wir sollten, nach mittlerweile Jahrzehnten des Ausblendens und Wegsehens, den Tatsachen ins Auge blicken.
Die einfache Tatsache, die in diesen Tagen zum Tragen kommt, lautet: Wer Arabien nach Deutschland holt, darf sich über explodierenden arabischen Judenhass auf deutschen Straßen nicht wundern. Sie halten das für unzulässig zugespitzt, für infam übertrieben?
Bereits in den 1990er Jahren wurde prognostiziert, dass mit der hingenommenen Massenmigration aus dem Nahen Osten auch die Konflikte des Raums in unser Land hineingetragen würden. Hören wollte das damals keiner der politisch Verantwortlichen, und auch die Öffentlichkeit – aufgrund des notorisch schlechten geschichtlichen Gewissens der Deutschen leicht manipulierbar, im Bedarfsfall auch moralisch erpressbar – schloss lieber die Augen vor dem, was an importierten Problemen und Gefahren schnell an Kontur gewann.
Jegliche Bedenken wurden kurzerhand hinweggewischt, als man sich daran machte, Deutschland zu einer sogenannten multikulturellen Gesellschaft umzubauen. Schon früh wurde gewarnt, dass eine solche multikulturelle Gesellschaft, wie sie von deren Promotern propagiert wurde, notwendigerweise den Keim multiethnischer Konflikte in sich trage. Geschenkt. Ideologie siegte schnell über Vernunft, Euphorie über Vorsicht, die Claqueure spielten die Bedenkenträger an die Wand oder drängten sie ins politische Aus. Die multikulturelle Gesellschaft ist heute in Deutschland Realität. Die vorhergesagten ethnisch geprägten Konflikte sind es auch.
Antiisraelische, respektive antijüdische Demonstrationen gibt es unserem Land seit vielen Jahren, weitgehend unbeanstandet, obwohl dabei immer wieder kulturell geprägter Antisemitismus der Beteiligten offen zutage trat. Auch hier greift seit jeher das Prinzip der Ausblendung: Ich selbst habe als Beobachter mieseste antisemitische Transparente und Sprechchöre auf Palästinenserdemos registriert – musste aber später dem offiziellen Polizeibericht entnehmen, alles sei „friedlich verlaufen“. Wie „friedlich“ sind herausgeschriene antisemitische Hassparolen? Offenbar wurde geflissentlich überhört, was man nicht wahrhaben wollte.
Inzwischen haben sich antisemitische Ausbrüche auf deutschen Straßen wiederholt und variiert. Und wiederholt wurde verdrängt und allzu Peinigendes eiligst vergessen – „Hamas! Hamas! Juden ins Gas!“ geifernde Meuten auf Palästinenserdemos ebenso wie jenes Video aus Berlin, das einen arabischen Jungen zeigt, der wieder und wieder einen jüdischen Jugendlichen mit seiner Gürtelschnalle schlägt. Polizeibeamte zum Schutz jüdischer Einrichtungen, sogar vor jüdischen Restaurants – erfolgreich aus dem Blickfeld gedrängt, irgendwann hat man sie gar nicht mehr wahrgenommen und musste somit nicht mehr über die alarmierenden Hintergründe dieses notwendigen Schutzes nachdenken. Die Berichte von den Sorgen jüdischer Eltern in Deutschland, über konkrete Erfahrungen ihrer Kinder mit antisemitischem Hass auf dem Schulhof, nicht durch Nazi-Phantome, sondern durch Mitschüler mit dem formelhaften „Migrationshintergrund“ – all das ist stets verlässlich schnell verweht gewesen.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wohlfeiles Schlagwort der vergangenen Jahre: Wo sie wie hier wirklich einmal Gestalt annimmt, greifbar wird, wird lieber über sie hinweggeschwiegen, um sich keinem falschen Verdacht auszusetzen. Aus Angst vor der Rassismuskeule wird über tatsächlichen Rassismus kein notwendiges Wort gesprochen, von praktischen Konsequenzen gar nicht zu reden.
Jetzt brennt Neukölln. Und wieder sind viele einfach, allzu einfach erschrocken über das, was sie sehen. Die Ahnungslosen aber hätten nicht nur ahnen, sondern sogar wissen können, was da auf uns zukam. Dass wir am Ende immer die Rechnung für unsere Lebenslügen bezahlen. In diesem Fall für die Lebenslüge einer multikulturellen Gesellschaft, die selbst bei aller verfassungspatriotischen Beschwörung in erster Linie keine Spielwiese der Bunten und Vielfältigen ist, sondern eine knallharte, kalte Konfliktgesellschaft.
Vielleicht, wer weiß, wird es in diesem Land der so bemüht Ahnungslosen ja langsam einmal zu einem heilsamen Erschrecken kommen, das künftig reflexhaftes Zeigen in die falsche Richtung verhindert und dazu ermutigt, die tatsächlichen Probleme und Gefahren ungeschönt bei ihrem Namen zu nennen. Die deutsche Dauer-Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte 2010 einen solchen wachen Moment, als sie feststellte: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert.“ Später wollte sie daran nicht mehr erinnert werden, forcierte ihrerseits eine Entwicklung, die eskalativen Charakter hatte.
Allein, bislang ist in Deutschland das Auf- und Erschrecken immer verlässlich dem erneuten Tagschlaf gewichen, ist die Empörung über Verstörendes, Inakzeptables und Inkompatibles in Beschwichtigung und Umlenkung übergegangen, haben Bürger und politisch Verantwortliche gleichermaßen dem steinigen Weg der Einsicht das weitere blinde Wandeln durch das Fantasiereich der allein seligmachenden Multikultur vorgezogen. Bis zum nächsten Knall.
Wenn in schon wenigen Wochen niemand mehr sich an die aktuellen Geschehnisse auf deutschen Straßen erinnern und daran erinnert werden mag – auch das wird mich nicht wundern, so wenig wie jetzt die Schreckensbilder aus Neukölln. Das Verdrängen ist ein Meister aus Deutschland.
Der Autor lebt in Münster (Deutschland), zuweilen auch in Graz. Er ist Verfasser mehrerer Bücher. Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf seiner Facebookseite. Der Abdruck erfolgt mit Genehmigung.