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Der politische Analyst Gregor Razumovsky über den Ukrainekrieg, konservative Strömungen in der EU und den nicht zu unterschätzenden Verteidigungswillen der Ukrainer
Herr Razumovsky, der Krieg in der Ukraine dauert nun schon fast fünf Monate lang. Wie lautet Ihre Zwischenbilanz?
Gregor Razumovsky: Die Zwischenbilanz lautet, dass es zunächst einmal für alle Beteiligten schlecht ist: Es ist schlecht fürs russische Volk, es ist schlecht fürs ukrainische Volk, es ist schlecht für uns, es gibt niemanden, der etwas davon hat.
Eines der Kriegsziele Putins war die „Entnazifizierung“ der Ukraine. Besteht die Regierung in Kiew aus lauter Nazis?
Razumovsky: Die Nazikeule ist eine typische propagandistische, polemische Keule. Wir erleben das auch bei uns, sobald jemand eine Meinung hat, vom Mainstream abweicht, wird ihm sofort das Schild „Nazi“ umgehängt. In Russland hat der Begriff „Nazi“ überhaupt keine ideologische Bedeutung, er heißt soviel wie „der gegen Russland ist“.
Wie sieht das rechte Lager der Ukraine aus? Gibt es da verschiedene Strömungen oder bildet es einen einheitlichen Block?
Razumovsky: Zunächst einmal gab es die von uns allen mit Argwohn beäugten Asow-Regimenter und ähnliches. Man muss aber immer die Sache auf die tatsächliche Größe reduzieren: Es handelt es dabei um ein paar hundert Menschen in einer Nation von 44 Millionen. Es gibt andere Strömungen, die noch aus der Zeit der k.u.k. Monarchie stammen. Der Gründer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, der OUN, Jewhen Konowalez, war Oberst im österreichischen Heer, sein Stellvertreter Andrej Melnik war ebenfalls ein Oberst im österreichischen Heer, und beide haben eine sehr konservative Bewegung gegründet.
Erst später durch ein paar seltsame Dinge und auch durch starke amerikanische Propaganda wurde dann Stepan Bandera mit der OUN in Verbindung gebracht. Bandera ist eine Art kleine Marionette der Geschichte, und davon abgesehen gibt es noch die Manisten, die damals Monarchisten waren und sich mittlerweile in eine stark nationalkonservative Richtung bewegt haben. Und dann gibt es noch die Nachfolger der christlich-konservativen Michail Hruschewsko-Regierung, die sich 1918 etabliert hatte. Es gibt also verschiedene Strömungen, die auf unterschiedliche Weise konservative Werte vertreten und die wir hier nicht wahrnehmen.
Und welchen Einfluss haben diese Strömungen in der Ukraine des Jahres 2022?
Razumovsky: Das ist sehr unterschiedlich. In der Westukraine gibt es den Einfluss der OUN, in der Ostukraine sind es eher die Buschewski-Anhänger und die Plekura-Anhänger. Aber diese Strömungen sind wiederum nicht sehr konträr in ihren Ansichten.
Sie haben gerade Stepan Bandera erwähnt. Russland beschuldigt die Ukraine, einen Bandera-Kult zu betreiben, und Bandera sei ein NS-Kollaborateur gewesen. Wie ist die historische Person Stepan Bandera einzuordnen und welche Bedeutung hat Bandera für die heutige Ukraine?
Razumomsky: Man muss zunächst einmal unterscheiden: Es gibt den historischen Stepan Bandera, der ein junger galizischer Terrorist war, der gegen die Polen gekämpft hat und Bomben gegen polnische Einrichtungen gelegt hat. Dieser historische Stepan Bandera wurde von deutscher Seite im Juli 1941 festgenommen und kam nach Sachsenhausen – aber nicht ins Konzentrationslager, sondern in den Zellenblock, wo man die sogenannten Ehrenhäftlinge untergebracht hatte. Er hatte ein Zwei-Zimmer-Apartment und blieb dort bis nach dem Krieg. 1945 wurde er von den Briten in Gewahrsam genommen und 1948 beschlossen die Briten und Amerikaner, ihn zu verwenden. In Wahrheit haben die Briten und Amerikaner Stepan Bandera erfunden, weil ihnen Andrej Melnik, den sie auch hatten, zu alt und nicht kooperativ genug war. All die Jahre saß Bandera in München in einer kleinen gemütlichen Wohnung, wurde von den Amerikanern finanziert und war von herausragender Bedeutungslosigkeit. Aktiv waren hingegen andere wie Roman Schuchewytsch, der die UPA, die Ukrainische Aufständische Armee aufgebaut hat, was eine gigantische Leistung war. Schuchewytsch hat sein Land gegen die Wehrmacht und gegen die Rote Armee bis 1954 verteidigt.
Neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und ein Jahr nach dem Tod Stalins haben sie noch gekämpft und das ist auch noch eine Sache, die uns im Bezug auf den derzeitigen Krieg bewusst sein muss: Die Ukrainer geben nicht auf. Wenn sie ihr Heimatland verteidigen müssen, dann tun sie es auch.
Welche Bedeutung spielt eigentlich der Holodomor, die in der Zwischenkriegszeit von Stalin künstlich hervorgerufene Hungersnot in der Ukraine, der Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, heute für das kollektive Bewusstsein der Ukrainer?
Razumovsky: Zumindest im östlichen Teil der Ukraine findet man kaum jemand, der nicht einen Großelternteil oder einen Onkel in der Familie hätte, der damals verhungert ist. Der Holodomor hat leider eine ganz, ganz, ganz riesige Wunde hinterlassen und er trägt dazu bei, dass die Ukrainer jetzt sehen, da benimmt sich einer wie Stalin und wir können von ihm nichts erwarten.
In der Berichterstattung über die Ukraine war zumindest bis vor dem Krieg immer wieder die Rede, sie sei ein gespaltenes Land. Je weiter man östlich von Kiew ist, desto mehr wird im Alltag die russische Sprache verwendet. Und was die nationalen Identitäten betrifft, ist es auch nicht so klar. Manche geben an, sie seien Ukrainer und verwendet im Alltag Russisch oder umgekehrt. Wie ist das zu verstehen, gibt es da überlappende nationale Identitäten oder handelt es sich im ein schwebendes Volkstum ähnlich der Windischen in Kärnten?
Razumovsky: Es gab in der Ukraine den Philosophen Wjatscheslaw Lypynski, dessen Gedanken sehr stark einflossen in die politische Philosophie und der gesagt hat, wer in der Ukraine lebt, wer ukrainischer Staatsbürger ist, wer die ukrainischen Gesetze beachtet und die ukrainische Kultur respektiert, ist Ukrainer. Ich selbst habe sehr viele Bekannte in Charkiw, das weit im Osten ist, die zuhause Russisch reden. Manche reden auch bei der Arbeit Russisch und würden nie auf die Idee kommen, sich selbst als Russen zu bezeichnen. Für sie macht es keinen Unterschied. Man sieht es auch bei den Flüchtlingen, sie sprechen durcheinander. Was vor allem von den Gebildeteren abgelehnt wird, ist die Mischform. Ich bereise die Ukraine seit 1991 und habe noch nie erlebt, dass es irgendwo zu Spannungen gekommen wäre, wenn jemand Russisch spricht.
Könnte es jetzt durch den Krieg zu einer Zurückdrängung der russischen Sprache im Alltag kommen?
Razumovsky: Ich denke, dass es jetzt zu einer Zurückdrängung der russischen Sprache kommen wird. Ich habe mit einigen russischen Ukrainern aus Charkiw gesprochen die mir gesagt haben, wir werden in Zukunft kein Russisch mehr sprechen.
Dieser Krieg ist das größte Eigentor Putins, das man sich nur vorstellen kann. Jetzt den Krieg weiterführen, nachdem die Ukrainer nicht mit Brot und Salz gekommen sind, ist eine Torheit. Man kann immer auch den Rückwärtsgang einlegen.
Wagen wir nun einen Block in die Zukunft: Wie lange wird der Krieg ihrer Einschätzung nach noch dauern, was ist zu erwarten und vielleicht auch zu befürchten?
Razumovsky: Eine Sache, die wir aufgrund der Erfahrungen mit den Ukrainern in den letzten Jahrhunderten sagen können, ist, dass sie den Krieg entweder weiterführen werden oder dass sie auf einen Partisanenkrieg umsteigen werden, wenn sie nicht mehr die Waffen haben, um einen regulären Krieg zu führen. Einen Partisanenkrieg findet man bei der UPA, das findet man im 19. Jahrhundert und das findet man im frühen 18. Jahrhundert usw.
Die Hungersnot Holodomor trägt dazu bei, dass die Ukrainer sehen, da benimmt sich einer wie Stalin.
Glauben Sie, dass es auf beiden Seiten zu einer Abnützung oder Erschöpfung kommt und man sich dann überlegt, ob es nicht besser wäre, sich an den Verhandlungstisch zu setzen?
Razumovsky: Wie gesagt, die Ukraine haben von 1941 bis 1954 dieses Spiel gemacht. Sie haben es am längsten durchgehalten und ich kann Ihnen Beispiele aus der Geschichte nennen, da werden Sie mit den Ohren schlackern. Die Geschichte über die Ukraine, die man immer wieder hört, die ach so lang bei Russland war, stimmt nicht. Es gab einen Krieg nach dem anderen.
Können Sie mir bitte Beispiele nennen?
Razumovsky: Das schönste Beispiel ist von Iwan Wyhowsky, der im 17. Jahrhundert mit seinen Kosaken bis vor die Tore Moskaus gezogen ist. Wir haben in der Geschichtsschreibung sehr viel von den russischen Seite abgeschrieben.
Hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass die Ukraine lange Zeit keine Eigenstaatlichkeit hatte?
Razumovsky: Ja, und wenn man sie erobert hatte, was mehrfach schön zu sehen war wie etwa 1711 nach der Schlacht von Poltawa, wurde alles, was man an Dokumenten finden konnte, wahllos verbrannt. Oder auch die ganze Architektur von Iwan Basetta, der immerhin den sogenannten Kosakenbarock eingeführt hatte, wurde zerstört.
Wir müssen uns darauf einstellen, dass entweder die Ukrainer gewinnen oder die Russen im eigenen Land einen Regimewechsel haben und sagen, dieser Krieg ist sinnlos, oder aber der Krieg wird weitergehen. Er wird noch Jahre weitergehen und die Ukrainer werden nicht aufgeben.
Auf dem letzten EU-Gipfel wurde der Ukraine der Beitrittskandidatenstatus verliehen. Belastet diese Entscheidung das Verhältnis der EU zu Russland?
Razumovsky: Man muss unterscheiden zwischen dem, was Putin vorgibt – so, wenn er sagt „ich entnazifiziere“ – und dem, was effektiv der Fall ist. Es hat dazu geführt, dass Putin ein paar Stuhlwinde mehr abgelassen hat. Aber er hat auch wegen der NATO-Beitritte Finnlands und Schwedens unglaublich gedroht, geschehen ist aber gar nichts. Putin spielt gerne Wirtschaftskrieg mit uns und will uns die Energie abschneiden, aber einen militärischen Konflikt mit der NATO will er nicht.
Bekanntlich ist man im Nachhinein immer gescheiter, aber machen wir dennoch ein Gedankenspiel: Noch im Dezember rote Linien und einen Plan vorgelegt, in dem sich die Ukraine für neutral erklärt und die NATO auf die Ukraine verzichtet. Nehmen wir an, der Westen, allen voran die USA, wären darauf eingegangen, hätte das den Krieg verhindern können?
Razumovsky: Glaube ich nicht. Ich glaube, Putin hat das in der Erwartung vorgelegt, dass der Westen nein sagt.
Die Weichen in Richtung Krieg wurden also schon viel früher gestellt?
Razumovsky: Der Krieg hat ja schon 2014 begonnen und der Beitritt in die NATO war ja nicht das Thema. Der Krieg hat begonnen, weil die Ukraine nicht das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet hat. Es ist Putin, der die Ukraine in die EU schiebt, der Finnland und Schweden in die NATO schiebt.
Es ist Putin, der die Ukraine in die EU schiebt, es ist Putin, der Finnland und Schweden in die NATO schiebt.
Im Herbst 2013 wollte der damalige, als prorussisch geltende ukrainische Präsident Janukowitsch ursprünglich das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen. Allerdings änderte er seine Meinung und wollte sich der von Russland dominieren Eurasischen Wirtschaftsunion zuwenden. Dann wurde Janukowitsch gestürzt und erst dann wurde das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet.
Razumovsky: Es war so, dass Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mitverhandelt hat und dann sollte es der Rada vorgelegt werden, weil er es ohne vorherige Ratifizierung durch das Parlament nicht unterzeichnen konnte. Die Verhandlungen mit der EU verliefen so, wie Janukowitsch und seine Partei der Regionen es sich vorgestellt hatten, und dann kam das Angebot von Putin. Janukowitsch war passiv und hat letztlich nur darauf gewartet, dass man ihm etwas zur Unterschrift vorlegt. Die Aktion von Putin mit diesem Beitrittsgesuch wäre sowieso völkerrechtlich hinfällig gewesen, weil es die Ratifizierung durch die Rada nicht bekommen hätte. Die ganze Partei der Regionen war dagegen und das war mit ein Grund, warum Janukowitsch gehen musste. Und dass war dann auch wiederum unfair gegenüber den Russen in der Ukraine, gegenüber der Partei der Regionen, die für eine Föderalstaruktur der Ukraine war, was ich damals gut fand und auch heute noch gut finde.
Dann kamen die Demonstranten und sagten, was soll das, dass Assoziierungsabkommen mit der EU ist fertig ausverhandelt. Am Anfang haben nur Studenten protestiert, die sich Vorteile aus dem Abkommen mit der EU erhofft hatten. Dann bekamen die Studenten immer breitere Unterstützung und das Ganze eskalierte. Die Eskalation war eine unerwartete und ausnahmsweise ohne ausländische Mitarbeit – anders als bei der Orangenen Revolution 2004, als die Amerikaner ihre Hände im Spiel hatten. Am Ende fielen Schüsse und Janukowitsch hatte keine andere Wahl und musste fliehen.
Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.