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Der pensionierte Bundeswehrgeneral Jürgen Reichardt über das Risiko eines Atomkriegs, das „Gleichgewicht des Schreckens“ und den Verlauf des Ukrainekrieges
Am 27. Februar versetzte Putin die russischen „Abschreckungskräfte“, also die Atomstreitmacht, in Alarmbereitschaft. Wie ist dieser Schritt zu bewerten? Ist eine gefährliche Eskalation zu erwarten oder handelt es sich hier um einen normalen Vorgang in einem Konfliktfall bzw. Krieg?
Jürgen Reichardt: Kernwaffen sind politische Waffen. Ihre Wirkung entfalten sie, wenn ihr Einsatz in Betracht gezogen werden muss. Die öffentlich bekanntgemachte „Alarmbereitschaft“ kann als vorsorglicher Hinweis darauf gedeutet werden, dass es sie gibt und mit ihnen gerechnet werden sollte. Sozusagen als Ermahnung an potentielle Unterstützer, sich militärisch zurückzuhalten.
In Medien wird spekuliert, Putin könnte taktische Nuklearwaffen einsetzen. Sehen Sie diesbezüglich eine Gefahr oder handelt es sich eher um Effekthascherei?
Reichardt: Eine militärische Lagebeurteilung bewertet nicht Absichten, sondern Möglichkeiten. Die bestehen durchaus. Das ergibt sich schon aus der Einstufung als „taktische“ Waffen, was bedeutet, dass sie den Verlauf eines Gefechts in kritischer Phase entscheiden können sollen, wenn das anders nicht zu erreichen ist. Weil damit immer auch die Gefahr einer Eskalation verbunden ist, gelten solche Waffen als „ultima ratio regis“, als letztes Mittel zur Abwendung einer Krise oder Katastrophe.
Wenn von Atomwaffen die Rede ist, denken die meisten Menschen an strategische Kernwaffen, etwa an Langstreckenraketen, die von einem Kontinent zum anderen geschossen werden. Welche Bedeutung haben nun taktische Kernwaffen?
Reichardt: Damit in den Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen der achtziger Jahre zweifelsfreie Zuordnungen der Systeme möglich wurden, gewannen Unterscheidungen nach Kategorien an Bedeutung: Zu „Strategischen Systemen“ zählten im Ost-West-Konflikt alle Kernwaffenträger, die das Festland der jeweils gegnerischen Atommacht erreichen konnten, unabhängig von Sprengkraft und Reichweite. Ob von U-Booten vor der Küste aus, mit Bomben aus Flugzeugen oder durch Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengkörpern – alles, was die USA atomar bedrohen konnte, galt als strategisch, umgekehrt galt das ähnlich für die Sowjetunion. Für den europäischen Kriegsschauplatz wählte man Kategorien nach Reichweiten: Bis 500 km galt alles, was Kernwaffen abfeuern konnte, als taktisch (TNF), bis 1.500 km als „Mittelstreckenwaffen“ (INF, Intermediate Nuclear Forces), die also weder die Sowjetunion noch die USA von Europa aus erreichen konnten. Das ist im Prinzip bis heute so geblieben. Wenigstens für die Unversehrbarkeit der USA.
Für Russland hat sich die Lage dagegen grundlegend geändert: Jetzt können nicht nur Mittelstreckenwaffen, sondern sogar Gefechtsfeldwaffen von NATO-Gebiet aus russisches Territorium erreichen, was alle Verträge und Obergrenzen hinfällig macht.
Inzwischen können sogar Gefechtsfeldwaffen von NATO-Gebiet aus russisches Territorium erreichen.
CIA-Direktor Burns meinte, Putin könnte irgendwann so verzweifelt sein, dass er auf die nukleare Karte setzt.
Reichardt: Das Wesen des „Gleichgewichts des Schreckens“ im Kalten Krieg bestand in der Fähigkeit beider Seiten, im Falle eines atomaren Angriffs trotz aller Schäden noch atomar vernichtend zurückschlagen zu können, in der sogenannten „Zweitschlagfähigkeit“. Sie setzte eine gewisse Unverwundbarkeit der strategischen Systeme voraus, die deshalb später auch vertraglich zugestanden und gesichert wurde. Im ABM-Vertrag etwa wurden wirksame Raketenabwehrsysteme (“Anti Ballistic Missiles“) abgeschafft, waren unzulässig. Die verbliebene Fähigkeit, bei gleichem, vereinbartem Niveau auf den gegnerischen Gebrauch taktischer atomarer Gefechtsfeldwaffen mit Kernwaffen einer höheren Kategorie, die nicht voraus berechenbar sein sollte, antworten zu können, sollte auch von deren (allzu frühem) Gebrauch abhalten, „abschrecken“. Das galt aber für den damals vorausgesetzten Fall, dass beide Supermächte bereits in einen „konventionellen“ Konflikt involviert gewesen wären.
Da liegt nun das Dilemma der USA im aktuellen Ukrainekrieg: Sollten die russischen Streitkräfte atomare Gefechtsfeldwaffen in der Ukraine einsetzen, geschähe das immer noch im Rahmen des bilateralen Krieges, in den sich ja westliche Militärmächte nicht hineinziehen lassen wollen. Würden die USA daraufhin mit Kernwaffen antworten, gleich welcher Art, würden sie damit in den Krieg eintreten und sich in die Gefahr eines strategischen Nuklearkrieges begeben, der das Territorium der USA unmittelbar bedrohen würde. Das wird – bei allen Beschwörungen der Hilfe für Kiew – nicht geschehen. Indem Russland also das Risiko eines atomaren Gegenschlags kaum fürchten muss, besteht das Risiko eines atomaren Warnschusses auf ukrainisches Gebiet durchaus.
Unabhängig von Putins Gemütszustand dürfe aber klar sein, dass der Krieg in der Ukraine für den Kreml nicht nach Wunsch läuft. Welche militärischen Fehler hat Russland aus Ihrer Sicht begangen?
Reichardt: Da wir bislang auf Spekulationen über Kriegsziele, Operationspläne und verfügbare Kräfte angewiesen sind, fehlen Grundlagen für eine seriöse militärische Beurteilung des bisherigen Verlaufs. Eine militärische Lagebeurteilung verlangt, die Verhältnisse auch aus der Sicht des Gegners, aus „Feindsicht“, zu betrachten. Je größer die Rückschläge, je höher die personellen und materiellen Verluste, desto unerbittlicher wird die Großmacht am Minimalziel des Feldzuges festhalten. Dazu dürften gehören: Endgültigkeit der Krim-Annektion, Autonomie der arrondierten „Volksrepubliken“ in der Donbass-Region, Landverbindung von dort zur Krim, Neutralität der Ukraine außerhalb der NATO. Als Kompromissangebot könnten ein Verzicht auf weitergehende Okkupationsziele, das Ende der Kampfhandlungen und gewisse künftige Garantien in Frage kommen.
Seriöse sachliche Angaben über die ukrainischen Stretkräfte lassen sich unterhalb der Propaganda nicht treffen.
Wie bewerten Sie die Verteidigung der ukrainischen Streitkräfte?
Reichardt: Dazu sind derzeit selbst die zuständigen Ministerien in den NATO-Staaten außerstande. Man kennt weder die nationalen Abwehrpläne noch die Stärke und den Zustand der Ukrainischen Streitkräfte, ihre bisherigen Verluste oder Reserven. Somit lassen sich seriöse sachliche Angaben unterhalb der Propaganda nicht treffen. Die emotionale Sympathie für eine Volkserhebung allenthalben und das Mitgefühl für die Kriegsopfer sind nur zu verständlich. Man sollte dabei aber nicht übersehen: Die Bewaffnung von Volksmilizen, die nicht als Truppe erkenntlich sind, der Waffengebrauch durch zivile Kämpfer rufen entsprechende Kampfweisen und Repressalien hervor. Sie verstoßen ebenso gegen die Haager Landkriegsordnung, sind also völkerrechtswidrig, wie Kampfmaßnahmen ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Im klassischen Kriegsvölkerrecht gilt das IUS IN BELLO, das Recht während der Kriegsführung, für Angreifer und Verteidiger gleichermaßen. Der Beschuss von Balkonen und Fenstern durch Panzer kann nicht überraschen, wenn von dort aus geschossen wird oder sich Kampfeinheiten und Kommandostellen mit der Zivilbevölkerung mischen. Das war im Irak nicht anders. Inwieweit das in den ukrainischen Ortschaften der Fall ist, weiß man nicht.
Für die Verteidigung von Städten mag es gute Gründe unterschiedlichster Art geben. Wenn allerdings die Bevölkerung vorher nicht evakuiert werden kann, sind Verluste, Schutt und Asche die unvermeidliche Folge. Deshalb hatte z. B. die NATO während des Ost-West-Konflikts eine Verteidigung deutscher Großstädte nicht vorgesehen.
Der Westen, allen voran die USA, unterstützen die Ukraine mit Waffen. Waren bzw. sind diese Waf-fenlieferung für den bisherigen Kriegsverlauf entscheidend? Wäre der ukrainische Widerstand ohne die Hilfe aus dem Ausland zusammengebrochen?
Reichardt: Die von den Russen offenbar gering eingeschätzte militärische Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte, ihre Lösung von sowjetischen Doktrinen sowie die Ausstattung und Ausbildung durch die USA geschah lange vor dem Angriff im Februar, manche vermuten sogar schon vor der Krim-Intervention. Aktuell profitierten die Ukrainer ganz wesentlich von der nachrichtendienstlichen Unterstützung, den Aufklärungsergebnissen bis hin zur Zielortung der Amerikaner. Verzugsarme Übermittlungswege waren offenbar schon eingerichtet. Ohne diesen Informationsgewinn wäre der geordnete Widerstand vermutlich bald zusammengebrochen, sofern er überhaupt planmäßig geführt worden wäre.
Die Hilfen der anderen NATO-Staaten sind bisher dagegen eher symbolischer Natur. Ein Sammelsurium von Gefechtsfahrzeugen und Waffen ist der Alptraum jedes Truppenführers.
Immer ist zu bedenken: Bei Bedrohung seines Großmachtstatus bleiben Russland immer noch die Kernwaffen.
Was ist vom weiteren Kriegsverlauf zu erwarten? Wird eine Seite militärisch siegen können oder rechnen Sie eher mit einem langen und zermürbenden Abnutzungskrieg?
Reichardt: Die militärische Betrachtungsweise eines Krieges ist zwangsläufig eine andere als eine ethisch-moralische und kommt dementsprechend zu anderen Resultaten. Ziel einer militärischen Operation kann die Gewinnung oder Behauptung eines Raumes sein, ein anderes, gegnerische Streitkräfte zu vernichten oder ihnen zumindest die Durchsetzung ihres Willens zu verwehren, sie zu schwächen. Um absehbare Entwicklungen einzuschätzen, müssten die jeweiligen strategischen Ziele genauer bekannt sein. Daran ließen sich bisherige taktische Erfolge oder Misserfolge bemessen. Zahl und Ausmaß taktischer Misserfolge bedeuten wenig, sobald es zum letzten Gefecht kommt. Dessen Ausgang entscheidet. Eine sogenannte „Patt-Situation“, in der keine Seite mehr befähigt ist, ihre Ziele zu erreichen, ist durchaus denkbar. Dann gibt den Ausschlag, zu welchen politischen Kompromissen die jeweilige Seite bereit ist.
Schon deshalb ist vor allzu moralischem Eifer zu warnen: In jeder Phase und trotz aller Entartungen muss die Gesprächsbereitschaft bestehen bleiben. Politische Prinzipien, die sich allein an moralischen Kategorien oder eigenen Leitlinien orientieren, lassen indessen keinerlei Kompromisse zu – koste es, was es wolle. Insofern sind politische Beschwörungen, „die Ukraine dürfe nicht verlieren“ oder „Russland dürfe nicht gewinnen“, verhängnisvoll, da nicht konsequent durchdacht. Parlamente mögen stundenlang über sieben Haubitzen oder zehn Schützenpanzer diskutieren. Die entscheidenden Fragen sind: Was geschieht, wenn die Ukraine trotz aller Sanktionen, Lieferungen und Solidaritätsbekundungen vor dem (wegen ihrer Geheimhaltung über die wahre Lage) überraschenden Zusammenbruch stehen sollte: Die Katastrophe mit Bedauern hinnehmen, Eingreifen, Kriegseintritt?
Was tun, wenn es zur gegenteiligen Entwicklung kommt: Wenn die Ukraine in Selbstüberschätzung ihrer Fähigkeiten angesichts taktischer Erfolge und im Vertrauen auf fortwährende Unterstützung zu offensiven Operationen übergeht und der Krieg nur deshalb andauert? Welche Kompromisse muss der Westen verlangen, um ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen? Denn immer ist zu bedenken: Ehe Russland aus seiner Sicht unzumutbare Opfer zu bringen oder Kompromisse einzugehen hat, die seinen Großmachtstatus bedrohen, bleiben ihm immer noch die Kernwaffen.
Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.
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