„Zustimmung zu Sanktionen sind Völkerrechtsbruch „

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Autor: Bild: Wikipedia/Thomas Ledl Lizenz: CC BY-SA 4.0


Der Verfassungs- und Völkerrechtler Michael Geistlinger über
die Vereinbarkeit von Russland-Sanktionen und Neutralität

Herr Professor, Österreich beteiligt sich an den umfassenden EU-Sanktionen gegen Russ­land wegen des Einmarsches in der Ukraine. Ist das mit dem Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität vereinbar?
Michael Geistlinger: Die Frage sollte aus völkerrechtlicher Sicht eher lauten: Ist Österreichs Beteiligung an den umfassenden EU-Sanktionen mit seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität vereinbar? Meine Antwort darauf lautet: Nein!
Der Unterschied in der Fragestellung ergibt sich aus der Doppelnatur des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität. Zum einen ist es Teil des österreichischen einfachen Verfassungsrechts. Dabei wird jedoch von österreichischen Verfassungs- und Europarechtlern vertreten, dass dieses Bundesverfassungsgesetz erstens durch das den Grundprinzipien (Baugesetzen) der österreichischen Bundesverfassung zuzurechnende Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur EU, zweitens durch die EU-Verträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon samt den damit eingetretenen Veränderungen und drittens den anschließenden Änderungen des B-VG, insbesondere Artikel 23j B-VG, teilweise oder zur Gänze derogiert worden ist. Wie immer dies verfassungs- und europarechtlich sein mag, wurde das BVG über die immerwährende Neutralität zum anderen 1955 praktisch der gesamten damaligen Staatengemeinschaft als Inhalt eines einseitigen völkerrechtlichen Rechtsgeschäfts, nämlich einer Statuserklärung, notifiziert. Dieses einseitige völkerrechtliche Rechtsgeschäft steht unverändert völkerrechtlich in Kraft. Alle von Österreich im Vorfeld seines EU-Beitritts und in Zusammenhang mit seiner EU-Mitgliedschaft – gerne als Ausdruck seiner Solidaritätspflicht titulierten – getätigte Handlungen entgegen dieses einseitige völkerrechtliche Rechtsgeschäft sind als Verletzungen der österreichischen immerwährenden Neutralität anzusehen. Auch wenn ihre Zahl, nimmt man Überfluggenehmigungen – zum Beispiel derzeit für Waffenlieferungen an die Ukraine – und Durchfuhrgenehmigungen in Zeiten bewaffneter Konflikte für eine Kriegspartei, die Zusammenarbeit mit der NATO unmittelbar im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden sowie mittelbar über die Mitgliedschaft in der EU samt Abhaltung von militärischen Übungen und vieles mehr zusammen, schon in die mehrere Tausende gehen, bedeuten sie eine Akkumulation von Neutralitätsverletzungen, haben sie aber nicht das völkerrechtliche Potenzial, den Status der immerwährenden Neutralität zu beenden. Die Beendigung liegt nicht im Belieben und in der alleinigen Entscheidungsgewalt Österreichs, sondern muss gemeinsam mit den Staaten, denen gegenüber Österreich den Rechtsschein, sich an die Verpflichtungen eines immerwährend neutralen Staates zu halten, hervorgerufen hat, wegverhandelt werden. Das ist bislang nicht geschehen. Advokatorische Versuche österreichischer Juristen und Politiker, die Pflichten eines immerwährend neutralen Staates umzudeuten oder mit dem Hinweis auf grundlegend geänderte Umstände oder die Herausbildung von den Status änderndem oder gar aufhebendem späterem Völkergewohnheitsrecht als beendet anzusehen, haben die im Völkerrecht gebotene repräsentative universelle Akzeptanz nicht gefunden. Als gescheitert müssen auch Versuche angesehen werden, das völkerrechtliche Neutralitätsrecht als geändert oder gar nicht mehr existent zu bezeichnen. Alles, was 1955 bezüglich der Rechte und Pflichten eines dauernd neutralen Staates in Friedens- und Konfliktzeiten gegolten hat, gilt ohne Änderung auch ­heute.

Dr. Michael Geistlinger ist ao. Univ.-Prof. in Ruhestand an der Universität Salzburg; Visiting Professor an der Karls-Universität Prag; Spezialgebiete: Völkerrecht, Vergleichendes Verfassungsrecht, Osteuropäisches Recht/Schwerpunkte Russland, Ukraine, Georgien, Moldavien, Serbien, Bosnien-Herze­gowina.(Bild: www.plus.ac.at)

Die EU-Sanktionen sind als Wirtschaftskrieg zu qualifizieren. Sanktionen mit der Intention, auf einen anderen Staat wirtschaftlichen Druck ausüben zu wollen, fallen unter das Gewaltanwendungsverbot der Satzung der Vereinten Nationen. Dies ist an Artikel 41 UN-Satzung abzulesen, der sich mit Gewalt unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt auseinandersetzt und auch für die Ausübung dieser Form von Gewalt die vorherige Genehmigung des UN-Sicherheitsrates verlangt. Die Sanktionen der USA in der Zeit der Sowjetunion und des Warschauer Paktes und danach bis heute gegen die Sowjetunion, Russland und andere Staaten und jene der EU, insbesondere gegen Russland, wurden nicht vom UN-Sicherheitsrat genehmigt, wären auch am Veto Russlands gescheitert, sind aber auch, was ihre Begründung mit der Krim angeht, nicht durch das völkerrechtliche Recht der Staatenverantwortlichkeit gedeckt. Sie waren und sind auch heute daher ein flagranter Bruch des Völkerrechts. Sich an der Anwendung von Gewalt gegen einen Staat zu beteiligen, ist mit dem Status der immerwährenden Neutralität unvereinbar. Österreich hätte die Pflicht getroffen, gegen die Sanktionen zu stimmen und diese zu vereiteln.

Die Beendigung der immerwährenden Neutralität liegt nicht in der alleinigen Entscheidungsgewalt Österreichs.

Die EU, zu deren Mitgliedern bekanntlich auch Österreich zählt, will der Ukraine Waffen im Wert von 500 Millionen Euro liefern. Außenminister Schallenberg sagte, man habe sich aus EU-Solidarität entschieden, sich nicht daran zu beteiligen und auch nicht zu blockieren. Ist eine solche Haltung nicht eine eklatante Missachtung der Neutralität?
Geistlinger: Außenminister Schallenberg hat mit der Zustimmung zu diesen Sanktionen selbst das Völkerrecht gebrochen. Der Verweis auf EU-Solidarität ist kein tauglicher völkerrechtlicher Rechtfertigungsgrund. Man kann eine Verletzung universellen Völkerrechts mit einer vermeintlichen Verpflichtung auf regionaler Ebene, derjenigen der EU, die noch dazu so gar nicht gegeben ist, wie der Außenminister behauptet, nicht rechtfertigen.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine neutralitätskonforme Politik Österreichs in internationalen Krisen wie dem Krieg in der Ukraine aus? Hat Bundeskanzler Nehammer Recht, wenn er meint, die österreichische Neutralität ist „keine der Nicht-Meinung haben“.
Geistlinger: Österreich hat das Recht, eine Verletzung des Völkerrechts anzuprangern, wenn es sich selbst an das Völkerrecht hält. Bricht es selbst das Völkerrecht, ist es ratsam, zu schweigen. Hält sich Österreich an seine immerwährende Neutralität, steht ihm auch das Recht zu, Verletzungen des Völkerrechts, z. B. des UN-Gewaltanwendungsverbots, anzusprechen und die Einhaltung des Völkerrechts einzumahnen. Die Achtung der Verpflichtungen aus der Neutralität ist aber auch in einem international bewaffneten Konflikt geboten, der unter Verletzung des Gewaltanwendungsverbots zustande gekommen ist. Das völkerrechtliche Neutralitätsrecht ist hinsichtlich der Entstehung eines Konflikts blind. Liegt ein international bewaffneter Konflikt vor, bestehen die bedingungslosen Gebote, keine der Konfliktparteien zu unterstützen und alle Konfliktparteien gleich zu behandeln. Österreichs Territorium darf nicht für die Unterstützung einer Konfliktpartei genutzt werden. Bundeskanzler Nehammer hat daher Recht und kann eine Meinung haben, vorausgesetzt er und sein Außenminister halten das Völkerrecht und damit auch den Status der immerwährenden Neutralität ein, was bedauerlicher Weise nicht der Fall ist.

Russland ist wegen der Haltung Österreichs im Ukraine-Konflikt sehr verärgert und erklärt, man werde das „künftig berücksichtigen“. Kann man es auch so sehen, dass es bei der Neutralität nicht nur um die Erfüllung des Bundesverfassungsgesetzes über die Neutralität geht, sondern auch um die internationale Glaubwürdigkeit, die jetzt möglicherweise dauerhaft beschädigt wurde?
Geistlinger: Der Wert des Status einer immerwährenden Neutralität ist jenem einer NATO-Mitgliedschaft weit überlegen, insbesondere für einen Staat wie Österreich, dessen Status, wie Präsident Putin dies bei seinem letzten Staatsbesuch in Österreich betont hatte, von Russland nicht nur zur Kenntnis genommen wurde, sondern garantiert wird. Der Vorteil des Status der Neutralität liegt darin, dass keine Österreicherin und kein Österreicher in einem bewaffneten Konflikt, der zwischen wem auch immer ausbricht, zu Schaden kommt. Voraussetzung dafür ist Glaubwürdigkeit. Diese zu verspielen, bedeutet die Schutzfunktion dieses Status zu gefährden. Die Schutzfunktion liegt darin, dass Österreich aus einem bewaffneten Konflikt ausgespart wird, weder Ziel von Angriffen wird, noch für Angriffe genutzt wird. Die Glaubwürdigkeit hat gelitten, hat den Status aber nicht beendet, sie muss nur schnellstens wiederhergestellt werden. Wie die russischen Gegensanktionen nun schon zeigen, zählt Russland Österreich zu den „unfreundlichen“ Staaten mit der Konsequenz, dass es ohne Rücksicht auf seinen Neutralitätsstatus als Feind in einem Wirtschaftskrieg betrachtet wird. Von da ist es nicht mehr weit zu einem Feindstatus in einem bewaffneten Konflikt.

Die Reaktionen Russlands auf die ­Sanktionen zeigen, dass es Österreich im Wirtschaftskrieg als Feind sieht.

Das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 verpflichtet Österreich auch, seine Neutralität mit allem ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten. Wurde diese Verpflichtung erfüllt, wenn man an die chronische budgetäre Unterdotierung des Bundesheers denkt?
Geistlinger: Zur Glaubwürdigkeit gehört, dass Österreich in der Lage ist, die Unversehrtheit seines Territoriums mit den einem kleinen Staat möglichen Mitteln, darunter auch militärischen, zu verteidigen. Dies ist nicht gegeben, zumal sich Österreich entsprechend dem Moskauer Memorandum und den Erläuternden Bemerkungen zum BVG über die immerwährende Neutralität an der Schweiz orientieren sollte. Die Schweiz, zeigt, um wieviel mehr ein vergleichbar kleiner Staat an Glaubwürdigkeit demonstrieren kann.

Im Zuge des Ukraine-Konflikts werden wiederholt Stimmen laut, die eine einheitliche EU-Verteidigungspolitik fordern. Nun gibt es Artikel 42 EU-Vertrag, der sich auf den „besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“, also auf die Neutralen bezieht. Könnte sich Österreich, falls die Entwicklung in Richtung einheitliche EU-Verteidigungspolitik, dauerhaft einer Teilnahme entziehen?
Geistlinger: Dieser Artikel bezieht sich in erster Linie auf den Umstand, dass eine erkleckliche Zahl von EU-Staaten zugleich NATO-Staaten sind. Der Artikel und die Selbstverständlichkeit, dass ein Vertreter eines NATO-Staates im Rahmen der EU nicht anders agieren kann als im Gleichklang zur NATO, macht die Mitgliedschaft dauernd neutraler Staaten in der EU, wollen sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Neutralität Rechnung tragen, im Grunde unmöglich.
Dies gilt für die Mitgliedschaft Österreichs genauso wie für die derzeit diskutierte neue Mitgliedschaft einer neutralen Ukraine, einer neutralen Moldau/eine neutralen Moldaviens und eines neutralen Georgiens.
Was Österreich anbelangt, so hat die Europäische Kommission in ihrer Stellungnahme zum österreichischen Beitrittsantrag Österreich damals die Abgabe eines Neutralitätsvorbehalts nahegelegt. Österreich hat das abgelehnt und die zweite – völkerrechtlich problematische – Option einer GASP-konformen Handhabung beziehungsweise Neuinterpretation seiner Neutralität gewählt. In der Gemeinsamen Erklärung zur GASP anlässlich der Schlussakte zum Beitrittsvertrag Österreichs zur EU haben sich die damaligen Mitgliedstaaten der EU von Österreich zusichern lassen, dass es ab dem Zeitpunkt seines Beitritts bereit und fähig sein wird, sich in vollem Umfang und aktiv an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, so wie sie im EU-Vertrag definiert ist, zu beteiligen.
Die Gemeinsame Verteidigungspolitik verschärft diese Problematik noch zusätzlich. Art 42 EU-Vertrag zu nutzen, um sich dauerhaft der Gemeinsamen Verteidigungspolitik zu entziehen, ist ein Gebot der Stunde, ebenso wie eine eindeutige Bereitschaft der EU, neutrale Mitglieder aus EU-Sanktionen und der Gemeinsamen Verteidigung auszusparen.

Das Gespräch führte Bernhard Tomasachitz.

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