“Wesentlich ist die Bereitschaft, sein eigenes Land zu verteidigen”

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Autor: Bild: Bundesheer/Daniel TRIPPOLT Lizenz: –


Sicherheitsexperte Wolfgang Baumann über die NATO, die Rolle der USA sowie die Europäer, die ihre sicherheitspolitischen Hausaufgaben nicht machen.

Finnland und Schweden haben NATO-Beitrittsgesuche gestellt, weil sie sich von einer Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt mehr Sicherheit erwarten. Könnte hier vielleicht der Schuss nach hinten losgehen, da Russland diese Schritte als unfreundliche Akte sehen könnte und es dann zu noch mehr Spannungen kommen könnte?
Wolfgang Baumann: Dass Russland die NATO-Beitrittsgesuche von Finnland und Schweden als unfreundliche Akte sieht, braucht man nicht diskutieren, das ist einfach so. Andererseits sind Schweden und Finnland souveräne Staaten und können ihre zukünftige sicherheitspolitische Ausrichtung selbstbestimmt gestalten.

Dr. Wolfgang ­Baumann ist Sicherheitspolitiker, war Sekretär von Minister Scheibner und Generalsekretär von Minister Kunasek im BMLV. Er ist heute u.a. Präsident des Liberalen Klubs (BIld: Navy Petty Officer 1st Class Dominique A. Pineiro/Wikipedia/CC BY 2.0).

Wenn Finnland und Schweden der NATO beitreten, was wahrscheinlich rasch geschehen wird, wird es in Europa mit Österreich, Malta, der Schweiz und Irland nur noch vier bündnisfreie bzw. neutrale Staaten geben. Ist die Bündnisfreiheit bzw. Neutralität ein Auslaufmodell?
Baumann: Ich glaube weniger, dass es für die Ausrichtung eines Nationalstaates in Bezug auf Sicherheit wesentlich ist, ob man in einem Bündnis ist oder alleine neutral. Erfolgreiche Neutralität bedingt u.a. Garantien, eine günstige geopolitische Randlage (jedenfalls nicht im Durch­marschraum) oder den absoluten Willen und die Mittel zur souveränen Verteidigung. Wesentlich ist aus meinem Empfinden die Bereitschaft, sein eigenes Land verteidigen zu wollen. Österreich hat mit der Umfassenden Landesverteidigung (ULV), die in der Verfassung steht und im Februar mit einem Allparteienantrag unterstützt wurde ein ausgezeichnetes vorbildhaftes Instrument. Es gilt nun, ehestmöglich die Umfassende Landesverteidigung nach dem beendeten lauwarmen Frieden wieder mit Leben zu erfüllen. Vor allem müssen wir die Geistige Landesverteidigung wieder beleben. Wir müssen in den Schulen und Universitäten klarmachen und lehren, warum wir unser Heimatland verteidigen. Wir brauchen eine Wirtschaftliche Landesverteidigung mit der Sicherstellung der Lieferketten und der Bevorratung; eine Zivile Landesverteidigung mit Zivilschutz, damit die Bevölkerung wieder geschützt ist. Ich erinnere, dass vor 15, 20 Jahren bei jedem Neubau ein Atombunker mit Bevorratung vorgeschrieben war. Und die Militärische Landesverteidigung benötigt dringend eine Anschubfinanzierung von zehn Milliarden Euro und eine Erhöhung des Landesverteidigungsbudgets auf zwei Prozent des BIP, so wie es auch in der NATO verlangt werden würde. Die Neutralitätsdiskussion lenkt nur vom dringenden Bedarf für das Bundesheer ab.

Die Neutralen wie Österreich ­tragen vor und vor allem hinter dem Vorhang zur Sicherheit bei.

Welchen Beitrag haben die Neutralen zur Sicherheit Europas geleistet bzw. leisten sie immer noch?
Baumann: Die Neutralen tragen vor und vor allem hinter dem Vorhang zur Sicherheit bei. Sie haben hinter den Kulissen beide Kriegsparteien möglichst gleich zu behandeln, Verhandlungen zu ermöglichen, Positionen auszuloten und bei Bedarf auch zu Verhandlungen einzuladen. Das gehört natürlich gestärkt, weil es zum Frieden beiträgt.

Als die NATO 1949 gegründet wurde, gab es die kommunistische Bedrohung seitens der Sowjetunion, 1989 fiel der Eiserne Vorhang, zwei Jahre später löste sich die Sowjetunion auf, die NATO verfiel in eine Sinnkrise, und 2019 bescheinigte Frankreichs Präsident Macron der NATO den „Hirntod“. Jetzt, mit dem Ukrainekrieg, schließen sich wieder die Reihen. Ist dieser Krieg, so schrecklich er ist, zynisch gesprochen für die NATO ein Glücksfall?
Baumann: Sicherheitspolitik hat wenig mit Glück zu tun. Es geht hier in erster Linie um Interessenspolitik, und die NATO war in der Vergangenheit für Europa, für den Westen, ein Garant der Sicherheit und ist es natürlich immer noch. Man darf hier nicht den USA den Vorwurf machen, im Bündnis einen bestimmenden Einfluss auszuüben, denn sie bezahlen auch entsprechend für dieses Bündnis und bringen ihre Soldaten ein. Wenn man seitens der Europäer ein eigenes Bündnis gestalten möchte – was die Absicht im Rahmen der EU ist – und wenn man sich die Mittel und die Bereitschaft ansieht, dann sind hier die Voraussetzungen erst sehr weit, am Horizont, sehr verschwommen erkennbar.
Wir müssen zu unserer eigenen Neutralität stehen, die ULV wieder verstärkt gesamtstaatlich ausrichten. 2001 war in der schwarz–blauen Koalition der NATO-Beitritt eine Option (nach Volksabstimmung) gewesen, die damals auch in die Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin eingebracht wurde. Aber infolge des Irakkrieges 2003 ist man von den Ambitionen bezüglich einer Annäherung an die NATO wieder zurückgetreten abgekommen, und 2013 ist die NATO-Option aus der Sicherheitsstrategie herausgestrichen worden.
Das Wesentliche ist zuerst die Bereitschaft, die Umfassende Landesverteidigung wiederherzustellen, das Bundesheer mit den notwendigen Mitteln auszustatten, und nach der Krise kann man natürlich eine Diskussion führen, ob die Neutralität für alle Zeiten und immerwährend die beste Sicherheitsoption für Österreich ist oder ob es auch andere gibt. Derzeit gibt es souverän nur zwei Wahlmöglichkeiten: entweder eigenständig neutral oder Beitritt zur NATO. Die Verfassung verlangt die Neutralität und die von Österreich anlassbedingte und selbstbestimmte Solidarität in der Europäischen Union. Natürlich trete ich für die österreichische Verfassung ein! Als Generalsekretär forderte ich bereits 2018/19 die Wiedereinführung von Truppenübungen 6+2 für die Miliz, eine Anschubfinanzierung von einer Milliarde und ein Regelbudget von ein Prozent für das Bundesheer. Das haben wir in der Regierung für die Budgetverhandlungen im Sommer 2019 sehr deutlich gemacht.
Heute am Beispiel der Deutschen (100 Milliarden für die Bundeswehr) und dem Krieg in der Ukraine steigt natürlich noch der Bedarf. Jeder der 55.000 Soldaten und alle Verbände brauchen dringend ihre Ausstattung.

Es gibt immer wieder Forderungen seitens der USA, dass die europäischen Verbündeten endlich das Ziel von zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben erreichen. Könnte man es auch so sehen, dass die Europäer sicherheitspolitische Trittbrettfahrer sind?
Baumann: Das ist einfach so! Wenn die Europäer nicht selbst bereit sind, mit entsprechenden budgetären Mitteln das eigene Gebiet zu verteidigen, wird sich hier nur wenig entwickeln. Wenn man sich ansieht, wie hoch das Verteidigungsbudget in Deutschland oder gar bei uns ist, dann sehe ich hier wenig Bereitschaft, und da wird auch ein Bündnis nicht viel Positives beitragen. In einem Bündnis müssten wir aber nicht unsere Grenzen verteidigen, sondern die Bündnisaußengrenzen. Bringt das mehr Sicherheit für uns in Österreich? Schon jetzt sind wir vorbildhaft bei internationalen Friedenseinsätzen vertreten und müssen uns keine Vorhaltungen gefallen lassen.

Sie haben vorhin erwähnt, dass die NATO noch immer ein Garant für die Sicherheit Europas ist. Können Sie das bitte etwas näher ausführen?
Baumann: Die NATO ist das einzige Verteidigungsbündnis, das es in Europa gibt. Die EU kann zukünftig vielleicht ein Verteidigungsbündnis sein. Es gibt aber viele Hinweise, dass NATO-Staaten in der EU gar nicht keine Vertiefung wollen und dass man sich weiterhin transatlantisch ausrichtet, dass sie USA und Kanada gemeinsam mit den europäischen Staaten in einem Verteidigungsbündnis sehen möchten. Es beginnt bei den Atommächten: Wir wissen: von den NATO-Staaten sind das die Briten und die Franzosen. Die Briten sind aus der EU ausgetreten, d. h. in der EU gibt es nur noch die Franzosen mit Atomwaffen. Es gibt den UN-Sicherheitsrat, in dem die Briten, die aber aus der EU ausgetreten sind, sowie die Franzosen vertreten sind. Die Franzosen haben jetzt im Rahmen der EU (gemeinsam mit den Deutschen) vielleicht die Chance, künftig eine eigene Säule in der NATO zu entwickeln, wo die EU im sicherheitspolitischen Bereich handlungsfähiger sein kann. Alles andere erachte ich als sicherheitspolitisches Wunschdenken, weil man die Realitäten anerkennen muss.

Die NATO ist das stärkste Militärbündnis der Welt und hat somit natürlich auch eine globale Ausrichtung.

Im Strategiepapier NATO 2030 wird angeregt, dass der Nordatlantikpakt eine globalere Rolle einnimmt, und dabei wird auch der systemische Wettbewerb mit China und Russland erwähnt. Wie sind Überlegungen zu sehen, dass die NATO eine globalere Rolle einnehmen soll?
Baumann: Die NATO ist das stärkste Militärbündnis der Welt und somit hat die NATO natürlich auch eine globale Ausrichtung. In den vergangenen nunmehr 30 Jahren hat sie sich mit Partnerschaften immer weiter erweitert, hat mit dem gewissen Misserfolg in Afghanistan auch die Partnerschaften vertieft. Genauso muss sich die EU global aufstellen, Sicherheitspolitik in dieser Dimension ist globale Sicherheitspolitik. Wir in Österreich betrachten die Notwendigkeiten begrenzt und kontinental, aber nichtsdestotrotz gilt es, um von den Nachbarn ernst genommen zu werden, das Verteidigungsbudget auf zwei Prozent zu erhöhen. Das Bundesheer braucht zusätzlich dringend jetzt eine Anschubfinanzierung von zehn Milliarden Euro, weil alles andere kommt zu spät und geht auf Kosten unserer Bevölkerung und unserer Soldaten, die wir dann nicht möglichst gut ausgerüstet und vorbereitet in einen Einsatz schicken können. Verantwortung ist hier gefragt.

Wenn die USA der größte Beitragszahler und Truppensteller sind, ist es nicht verwunderlich, dass die NATO überdurchschnittlich oft US-Interessen vertritt? Sollten das nicht die Europäer zum Anlass nehmen, ihre Hausaufgaben zu machen und ihre Verteidigungsbudgets zu erhöhen?
Baumann: Natürlich! Man darf ja keinem Staat zum Vorwurf machen, seine Interessen (im Rahmen des Völkerrechts) zu vertreten. Und dass wir für uns selbst unsere Interessen zu wenig wahrnehmen, ist eine andere Sache. Andere tun’s, aber bei uns wird das sehr kritisch betrachtet, und Faktum bleibt, dass unsere Anstrengungen, gerade in finanzieller Hinsicht, sehr gering sind. Die Minister Frischenschlager, Scheibner und Kunasek sind rühmliche Ausnahmen in der Finanzierung und in der neutralen Ausrichtung der militärischen Landesverteidigung.

Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.

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