Bilder: Parlamentsdirektion/Anna Rauchenberger
Der Urologe und Buchautor Universitätsdozent Hannes Strasser über Ärztemangel, Mediziner, die aufhören wollen, und falsche politische Entscheidungen in Bezug auf das Gesundheitssystem
Lange Zeit rühmte sich Österreich damit, das „beste Gesundheitssystem der Welt“ zu haben. Nun gibt es immer öfter Berichte, dass in Spitälern Betten gesperrt werden müssen, und sogar, dass das Gesundheitswesen vor dem Kollaps stehe. Was ist geschehen?
Hannes Strasser: Ganz einfach: Das Gesundheitssystem ist nicht mehr das beste der Welt.
Wo sehen Sie die größten Mängel, die es zu beheben gilt?
Strasser: Die Mängelliste ist sehr lang: wir haben in allen Bereichen viel zu wenig Personal. Wir haben zu wenig Ärzte, vor allem in den Krankenhäusern und zunehmend auch im Notarztsystem. Ferner leiden wir an einem massiven Mangel von Pflegekräften in den Krankenhäusern, in der mobilen Pflege und auch in Altenheimen. Dadurch, dass wir zu wenig Personal haben, müssen immer mehr Krankenhausbetten und Intensivbetten „geschlossen“ werden. Und zu guter Letzt wir haben zu wenig Kassenärzte und zu wenig mobile medizinische Betreuung.
Seit Corona müssen wir leider auch einen immer erschreckenderen Medikamentenmangel in weiten Bereichen feststellen. Da spielen zwei Ursachen mit hinein: Erstens gibt es Lieferprobleme, und der zweite Punkt, der sehr wichtig ist und den keiner laut anspricht, ist, dass wir seit Monaten eine massive Krankheitswelle haben. Wir sehen Krankenstände wie nie in Deutschland und in Österreich, deswegen brauchen unsere Patienten immer mehr Medikamente, und deswegen werden sie knapp. Nur ein Beispiel: Vor über einem Jahr hat die Firma Boehringer Ingelheim davor gewarnt, dass die Medikamente knapp werden, die Blutgerinnsel auflösen. Und zwar nicht, weil es Lieferprobleme gibt, sondern weil weltweit der Bedarf explodiert. Das heißt, es gibt immer mehr Menschen, die Herzinfarkte und Schlaganfälle erleiden und krank sind, und das verschärft die Situation. Generell arbeiten immer weniger Leute in den Krankenhäusern und in den Ordinationen, und gleichzeitig haben wir immer mehr Kranke – das passt vorne und hinten nicht mehr zusammen.
Inwieweit ist der Personalmangel hausgemacht? Ich denke da an die Corona-Zeit, wo sehr viele Leute, die im medizinischen Bereich tätig waren, gekündigt haben, weil sie sich nicht impfen lassen wollten.
Strasser: Das hat die Situation natürlich verschärft. Wir erleben derzeit mehrere Entwicklungen: Erstens haben viele Ärzte im Verlauf der letzten Jahre Österreich verlassen und sind ins Ausland gegangen, weil es dort attraktivere Bedingungen gibt. Zweitens haben viele Mitarbeiter im Gesundheitsbereich den Beruf aufgegeben, weil sie sich nicht haben impfen lassen wollten, gemobbt wurden – oder sie sind aus anderen Gründen gegangen. Vor allem hat man irrtümlich geglaubt, dass diese Menschen zurückkommen, wenn man die Impfpflicht zurücknimmt. In vielen Krankenhäusern wird ja schon länger keine Impfung mehr verlangt. Man sieht aber in Frankreich, in Italien und auch in Österreich, dass die Ärzte und Pflegfachkräfte, wenn sie einmal weg sind, nicht mehr zurückkommen. Drittens wollen viele Ärzte und Pflegemitarbeiter im Gesundheitsbereich momentan so schnell wie möglich in Pension gehen. Ein vierter und entscheidender Punkt ist, dass immer mehr Ärzte und Pflegefachkräfte krank sind, weil es bei einer Krankheitswelle natürlich auch Ärzte und Pflegepersonal trifft.
Ein Beispiel: Das Klinikum Favoriten in Wien, ein großes Krankenhaus, hat 36 Planstellen für die Anästhesie. Derzeit ist aber die Hälfte der Anästhesiestellen nicht besetzt, und zwar deshalb, weil etliche Anästhesisten in Frühpension gegangen oder weil sie krank sind. Mehr brauche ich Ihnen zur Situation in Österreich wohl nicht mehr sagen.
Alle diese Entwicklungen verschärfen die immer katastrophalere Situation seit Corona zusätzlich massiv. Der Chef der Inneren Medizin der Universitätsklinik Innsbruck, Universitätsprofessor Dr. Günter Weiss, brachte es kürzlich auf den Punkt: „Wir sind schlechter aufgestellt als vor Corona.“
Welche Rolle spielen hier Arbeitsbedingungen wie lange Arbeitszeiten oder verbesserungswürdige Entlohnung?
Strasser: Wenn die Arbeit nicht mehr attraktiv ist, dann gehen die Leute. Es handelt sich ja um hochspezialisierte und in ganz Europa gefragte Fachkräfte – Ärzte und Pflegepersonal. Wenn Sie als Unternehmen wollen, dass sie Arbeitskräfte bekommen – ob das im Tourismus ist, wo alle jammern, ob in einem Industriebetrieb oder in einem Krankenhaus –, dann müssen Sie diesen Menschen etwas bieten. Und wenn Sie zu wenig bieten, dann kommen die Leute nicht. Das ist ganz einfach.
Und dann ist auch klar, warum es immer mehr Wahlärzte gibt.
Strasser: Wahlärzte gibt es aus dem einfachen Grund immer mehr, weil das Kassensystem immer unattraktiver wird. Ich nenne Ihnen ein einfaches Beispiel: Jedes Jahr werden die Kassenzahlungen für die niedergelassenen Ärzte erhöht. In Tirol hat es jetzt eine Vereinbarung gegeben, dass in den Jahren 2022, 2023 und 2024 die Kassenzahlungen an die Ärzte um ca. fünf Prozent pro Jahr erhöht werden. Jetzt hatten wir aber im letzten Jahr eine Inflation von über zehn Prozent und heuer werden es wieder um die zehn Prozent sein. Die Erhöhung der Honorare ist aber bis 2024 vereinbart und fix gedeckelt und jetzt schon längst „aufgefressen“. Das führt dazu, dass die Kassenärzte einen massiven Einkommensverlust erleiden, bei gleichzeitig dramatisch erhöhten Kosten. Deshalb hat vor kurzem ein Großteil der niedergelassenen Tiroler Kassen-Augenärzte der Österreichischen Gesundheitskasse ein Ultimatum gestellt und eine bessere Abgeltung ihrer Leistungen gefordert hat. Andernfalls steht im Raum, dass der Großteil der Tiroler Kassen-Augenärzte demnächst den Kassenvertrag kündigt. Wenn das passiert, gibt es in Tirol faktisch keinen niedergelassenen Kassen-Augenarzt mehr.
Ein Problem mit den niedrigen Kassenhonoraren ist auch, dass es gerade im ländlichen Raum immer schwieriger wird, junge Ärzte zu finden, die Allgemeinmediziner werden wollen.
Strasser: Angenommen, jemand will jetzt eine Ordination gründen. Dann hat er derzeit mit extrem hohen Baukosten zu rechnen, mit hohen Finanzierungskosten, die Energiekosten explodieren, das Personal wird teurer usw. Das heißt, momentan kostet die Gründung einer Ordination extrem viel Geld und bedeutet ein sehr hohes finanzielles Risiko. Daher überlegt es sich jeder im Moment zweimal, ob er eine eigene Ordination eröffnet oder nicht.
Was die Situation noch verschärfen wird, ist, dass in Österreich und in Deutschland in den nächsten zehn Jahren dreißig bis vierzig Prozent der Ärzte in Pension gehen werden. Hinzu kommt, dass der Ärztemangel nicht nur Österreich, sondern das gesamte Europa betrifft. Wir werden noch Zeiten erleben, wo sich die einzelnen Länder um die Ärzte „reißen“ werden.
Wir sind schlechter aufgestellt als vor Corona.
Wie sieht es eigentlich mit der Finanzierung bzw. Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens aus? Die Lebenserwartung ist hoch, der medizinische Fortschritt schreitet – Gott sei Dank – weiter voran, und dann gib es Einwanderer, die noch nichts oder noch nicht viel ins System eingezahlt haben.
Strasser: Alles, was Sie genannt haben, kostet Geld. Aber denken Sie an die letzten Jahre zurück, da sind zig Milliarden ohne Diskussion ausgegeben worden. Es wurden über fünf Milliarden Euro nur für Corona-Tests ausgegeben, wo jetzt – ich sage es vorsichtig – Experten feststellen, dass der Effekt höchst zweifelhaft ist. Wir haben über fünfzig Milliarden Euro für Corona-Hilfen ausgegeben. Bis vor kurzem hat es noch geheißen „koste es, was es wolle“, Sie erinnern sich. Aber jetzt ist auf einmal kein Geld mehr da. Meiner Meinung nach ist Politik auch die Entscheidung, wofür man das Geld ausgibt. Die Österreicher zahlen jedes Jahr sehr viel Geld an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Meiner Meinung nach wird derzeit viel zu viel Geld für „Quatsch“ ausgegeben. Man wird irgendwann die Entscheidung treffen müssen, ob man Geld weiter für alles Mögliche und weniger Wichtige ausgibt oder ob man mehr Geld ins Gesundheitswesen investiert. Was ist uns das Gesundheitswesen wert? Das ist eine ganz einfache Entscheidung, die die Politik treffen muss. Und den derzeit regierenden politischen Parteien sind offensichtlich das Gesundheitswesen und kranke Menschen nicht so wichtig wie andere Dinge.
Welche Lösungsvorschläge haben Sie?
Strasser: Ganz ein einfaches Beispiel: In diesem Jahr sind im Budget 1,2 Milliarden Euro allein für Coronamaßnahmen vorgesehen. Jetzt sagt aber die WHO, dass die Pandemie vorbei ist, auch die österreichische Regierung sagt das, zu spät, aber doch. Wir haben zig Millionen Impfdosen bestellt und auf Lage, die praktisch niemand mehr geimpft haben will. Es wäre daher überhaupt kein Problem, diese 1,2 Milliarden Euro per Beschluss der Regierung für das Gesundheitswesen zu verwenden. Das Geld ist ja da. Gleiches gilt für andere Bereiche. Im Budget befinden sich ja Riesensummen. Die Frage ist nur, wofür man das Geld ausgibt. Ich würde mehr Geld ins Gesundheitswesen investieren, weil es ein entscheidender Faktor für das Land ist, für die Bevölkerung, für die Wirtschaft und für die Gesellschaft, und ich würde für andere weniger wichtige Bereiche weniger Geld ausgeben. Das ist eine rein politische Entscheidung.
Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.