Marine Le Pen (Rassemblement National) über die Folgen der Globalisierung für die Nationalstaaten und sinnvolle europäische Zusammenarbeit
Welche Bedeutung haben die kommenden Europawahlen? Erwarten Sie sich grundlegende Veränderungen in der europäischen Politik?
Marine Le Pen: Das ist eine entscheidende Wahl, da wir zum ersten Mal die Möglichkeit haben, das Ausgestaltung der europäischen Organisation zu ändern und das bisher bekannte Kräfteverhältnis grundlegend zu ändern. Der 26. Mai dürfte den Frühling der Nationen ankündigen, die Rückkehr zur angemessenen Bedeutung der Nationen im Gefüge der europäischen Institutionen. Zum ersten Mal regieren nationale Bewegungen in mehreren Ländern der Europäischen Union. Dies ist offensichtlich in Österreich der Fall, wo unsere Verbündeten von der FPÖ unseres Freundes Strache mitregieren, und dies ist auch in Italien der Fall, wo unsere Freunde der Lega von Matteo Salvini in der Regierungskoalition vertreten sind.
Diese neue Vision eines Europas, das auf der Achtung der Souveränität, dem Vorrang nationaler Gesetze und dem Konzept der konsensualen Zusammenarbeit beruht, ist überall auf dem Vormarsch, ob in Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn … Bisher hatten diejenigen, die gegen die föderale und supranationale Europäische Union gekämpft hatten, keine andere Wahl als sich ihr zu unterwerfen oder sie zu verlassen. Mit dieser Umkehrung der Situation verfügen wir heute über die historische Fähigkeit, Europa von innen heraus zu verändern, es dem schädlichen Einfluss der Europäischen Union zu entziehen und es durch ein Bündnis europäischer Nationen zu ersetzen, das eher dem Willen und den Interessen der europäischen Völker entspricht.
In ganz Europa werden patriotische Parteien immer stärker. Ist es die Sehnsucht der Menschen nach nationaler Identität?
Le Pen: Nationales Gefühl und Verbundenheit mit den uralten Prinzipien der Freiheit und Souveränität sind Teil der DNA der europäischen Nationen. Keine Ideologie, keine finanzielle oder technokratische Macht kann diesen angeborenen Charakter überwinden oder das, was die Besonderheit und den Wohlstand der europäischen Völker ausmacht, auslöschen. Der Globalismus, als Ideologie der Globalisierung hat geglaubt, er könne den Gesellschaften, die durch Jahrhunderte der Geschichte geprägt sind und von der westlichen Kultur und den christlichen Werte durchdrungen sind, ein multikulturelles Modell einpflanzen. Aber der Multikulturalismus ist ein Beschleuniger für Brüche und permanente Spannungen, sei es im Wirtschafts-, Sozial-, Sicherheits- oder Kulturbereich. Die Identität aber ist das, was das nationale Gefühl schmiedet und stärkt. Sie kann nicht von der Freiheit und Souveränität der europäischen Völker getrennt werden und diese Identität wirkt sich im unveräußerlichen Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes aus.
Lassen Sie uns kurz über Frankreich sprechen: Emmanuel Macron ist seit fast zwei Jahren Präsident Frankreichs: Wie sieht seine Leistungsbilanz aus?
Le Pen: Emmanuel Macron und seine Anhänger hatten während des Wahlkampfs der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen gesagt, dass es entweder ihn oder das Chaos geben werde. Zwei Jahre später haben die Franzosen Macron und das Chaos. Die breite und beliebte Bewegung der Gelbwesten, der Resonanzkörper dieser Wut, die das ganze Land erfasst hat, ist gerade dabei, zwei Jahre einer sinnlosen Politik, einer rücksichtsloser Entscheidung auf dem Rücken des französischen Volkes, einer Verachtung und Arroganz, die Millionen sich ungehört fühlender Franzosen verletzt hat, zu bestrafen.
Es ist die Vision von Emmanuel Macrons Machtbegriff, die abgelehnt wird, diese Distanziertheit, diese Selbstgefälligkeit der selbsternannten Eliten, dieses völlige Fehlen von Einfühlungsvermögen gegenüber Leiden und die Sorge der Menschen, die das Land in einem gefährlichen Ausmaß gespalten hat. Viel schwerwiegender ist diese hartnäckige Weigerung, einen glaubwürdigen und konkreten Ausweg aus der Krise vorzuschlagen, der wie in jeder Demokratie durch Neuwahlen geschieht, zeugt von Emmanuel Macrons beunruhigender Unfähigkeit, die Rolle und die Präsidentenfunktion zu verstehen, die der Amtsinhaber zur Verteidigung des allgemeinen Interesses und des Gemeinwohls braucht.
Anfang März präsentierte Macron seine Pläne für einen „Neuanfang“ in Europa. Es scheint, dass die „Zentralisierer“ in der EU ihre Pläne nicht aufgeben, nicht wahr?
Le Pen: So wie jede politische Organisation, die gescheitert ist und die die Realitäten leugnet – wie dies bei der Sowjetunion vor dem Zerfall der Fall war –, wollen ihre Verteidiger noch verstärkt fortführen, was nicht funktioniert hat. Das ist offensichtlich der Fall bei den Befürwortern eines supranationalen Europas. Sie wollen hin zu immer mehr gemeinschaftlicher Regierungsführung, geteilter Souveränität, sie wollen, dass die Nationen, die ein Hindernis die Schaffung einer vollständigen Zentralisierung des Kontinents verschwinden. Dieses System, das den Menschen das Recht verweigert, selbst für sich selbst zu entscheiden, ist gescheitert und wird allen abgelehnt, die die Kontrolle über ihr Schicksal wiedererlangen wollen.
Die Europäer wollen nichts mehr von Zwang hören, von Erpressung und Anweisungen von 28 Kommissaren, die das Leben von als 500 Millionen Menschen bestimmen. Diese Konzentration der Macht, die immer weiter und von den Realitäten und Wünschen der Völker entfernt ist, wird jetzt in Frage gestellt. Alle Demokraten können es nur begrüßen.
Ganz allgemein: Gibt es in Europa einen Kampf zwischen den Nationalstaaten und der Globalisierung?
Le Pen: Globalisierung bedeutet Deregulierung, wilden und unlauteren Wettbewerb, Masseneinwanderung und Aufweichung unserer kulturellen Werte. Das ist eine gewollte Zerstörung von Nationen, Völkern mit kulturellen Identitäten, das ist eine Kommerzialisierung von allem und jedem. Was brachte die glückliche Globalisierung, die ihre leidenschaftlichsten Verteidiger den Menschen verkaufen wollten? Massenarbeitslosigkeit, die unsoziale, harte Sparpolitik, die zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten führt. Wer kann sich damit ernsthaft rühmen? Wer kann noch glauben und bestätigen, dass die EU ein Synonym für Wohlstand ist, wenn die unterzeichneten Freihandelsabkommen den Ruin der Landwirte, Arbeiter und Angestellten bedeuten, die von diesem extremen und gewissenlosen Wettbewerb mitgerissen werden. In Anbetracht dieses Rechts des Stärkeren ist die Rolle der Nationalstaaten bedeutend, indem sie diese unverzichtbare Notwendigkeit von Schutz und Regulierung gewährleisten, damit der einzelne nicht diesen Exzessen ausgesetzt ist. Es muss das Interesse der Allgemeinheit über dem des Einzelnen stehen und das Gleichgewicht zwischen sozialer Gerechtigkeit und allgemeinem Wohlstand wiederhergestellt werden. Wir wollen den freien Handel durch den fairen Handel ersetzen und wir wollen und einen fairen Wettbewerb, Sicherheit und Stabilität, und eine Realwirtschaft und ausgewogenen und friedlichen Handelsbeziehungen.
Seit fünf Jahren gibt es die EU-Sanktionen gegen Russland. Hat sich die EU mit den Sanktionen ins eigene Knie geschossen?
Le Pen: Es ist offensichtlich geworden, was wir lautstark angeprangert haben. Die europäischen Wirtschaftssanktionen gegen Russland haben wiederum zu einem russischen Embargo gegen EU-Agrarerzeugnisse geführt, dessen erste Opfer französische und europäische Landwirte waren: Schließung von Verkaufsstellen, niedrigere Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse usw. Diese stumpfsinnige Haltung, die den Pragmatismus ignoriert, ist umso unverständlicher, als der Handel mit Russland ständig zurückgeht und die Vereinigten Staaten weiterhin mit den Russen Handel treiben.
Wie wichtig sind gute Beziehungen zu Russland?
Le Pen: Russland ist ein wichtiger und unverzichtbarer Akteur auf der internationalen Bühne, insbesondere im Kampf gegen den islamistischen Fundamentalismus, und die kriegshetzerische und gefährliche Politik der EU ist ein diplomatischer Unsinn. Im Gegenteil, wir müssen daran arbeiten, dieses Land auf den europäischen Kontinent zu binden, weil das die Weltordnung ist und auch dem Interesse der europäischen Länder entspricht. Wir müssen mit Russland friedliche Beziehungen gemäß unseren diplomatischen und wirtschaftlichen Interessen wiederherstellen
Wie sehen Sie die Aussichten für eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen den patriotischen Parteien Europas?
Le Pen: Wir arbeiten seit vielen Jahren im Europäischen Parlament mit unseren italienischen, österreichischen, flämischen und niederländischen Verbündeten zusammen. Die politischen Umwälzungen der letzten Monate, die zu einer Umgestaltung der Macht in Europa geführt haben, eröffnen neue Perspektiven. Die nationalen Bewegungen, von denen einige jetzt an der Macht sind und andere kurz davor sind, werden alles tun, um die Gründung dieser neuen europäischen Organisation, dieses europäischen Bündnisses der Nationen, das wir uns wüschen, zu beschleunigen. Dieses europäische Bündnis der Nationen wird die europäischen Beziehungen völlig neu definieren. Dieses nationalen Bewegungen sind entscheidend, um dieses Ziel zu erreichen.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der ENF-Fraktion im Europäischen Parlament gemacht, was konnte erreicht werden?
Le Pen: In erster Linie ist es uns trotz der zahlreichen Hindernisse gelungen, eine Fraktion zu bilden, die alle nationalen Kräfte zusammenbringt und innerhalb des Europäischen Parlaments nun möglich ist, unsere Standpunkte klarer zum Ausdruck zu bringen. Wir waren wirksame Hinweisgeber und unverzichtbar, um der europäischen Öffentlichkeit die Schädlichkeit von Freihandelsabkommen und ihre nachteiligen wirtschaftlichen und handelspolitischen Folgen, aber auch die verheerende Arbeitnehmer-Entsendungsrichtlinie zu verurteilen. Wir waren die einzigen, die sich gegen die törichten Richtlinien der Europäischen Kommission in Bezug auf die Migrationspolitik und insbesondere gegen die auferlegten Quoten für die Verteilung von Migranten ausgesprochen haben. Diese permanente Informationsarbeit hat zu einem kollektiven Bewusstsein in einigen europäischen Ländern geführt, was sich an den jüngsten Wahlergebnissen der nationalen Bewegungen zeigte.
Eine abschließende Frage: Was werden die größten Herausforderungen für Europa in den kommenden fünf Jahren sein:
Le Pen: Es ist notwendig, mit dieser Europäischen Union abzuschließen, die die Masseneinwanderung organisiert, wo ungezügelte Personenfreizügigkeit, ein unlauterer allgemeiner Wettbewerb, das Sozial- und Steuerdumping und der Einfluss der Finanzmächte immer erdrückender werden. Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenzen zurückzugewinnen, in jedem Land den Vorrang der nationalen Gesetze über die Richtlinien der Kommission bekräftigen, die Schaffung eines richtigen Austauschs fördern, der den Freihandel ersetzen muss, der die Völker überbelastet und deren Niedergang fördert. Der Schutz der Bürger und die Achtung der nationalen Souveränität müssen die beiden Prioritäten für die kommenden Jahre sein.
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