Seit Anbeginn der COVID-Pandemie geistert immer wieder ein Wort durch die Medien, das bei medizinischen Laien (also bei den allermeisten Leuten) ein unangenehmes Gefühl hervorruft und das man lieber nicht in der Realität erleben möchte. Die Rede ist von der „Triage“. Warum das so ist, hat einen einfachen Grund: Bei der ersten COVID-Welle im Frühling wurden zahllose Bilder und Berichte aus Bergamo (Italien) und New York gebracht, die aus total überlasteten Kliniken stammten und welche die Medienkonsumenten oft sehr betroffen machten. Die Bilder zeigten zahllose schwerkranke COVID-Patienten an Beatmungsmaschinen auf Intensivstationen, völlig erschöpfte Ärzte, total übermüdete Pflegerinnen und verzweifelte Angehörige, die sich allesamt dem Anschein nach nicht mehr zu helfen
wussten.
In den Berichten war wiederholt und fast täglich die Rede davon, dass die Ärzte wegen der Überlastung der Kliniken nun sogenannte Triage-Maßnahmen anwenden müssten, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Kaum jemand in der Medien-Szene konnte aber genau beschreiben, was „Triage“ eigentlich bedeutet. Einzelne Erklärungsversuche verpufften oder wurden nur selektiv wahrgenommen, es blieb der Eindruck: Triage hat immer etwas mit Engpass, Notfall, Rationierung und Ressourcenbegrenzung zu tun und führt zu lebensbedrohlichen Situationen. Für die Leser, Seher und SocialMedia-Aktiven entstand im Frühjahr rasch der angsterzeugende Eindruck, Triage würde bedeuten, dass man infolge unzähliger COVID-Kranker einem Teil dieser Patienten keine Behandlung anbieten könnte und dass diese armen Menschen dann elendiglich und unversorgt zugrunde gehen müssten.
Das einsame „Ersticken am Ende des Krankenhausganges“ wurde zur Schreckensvision und die entsprechenden gruselig-grausamen Assoziationen verfestigten sich beim Publikum. Diese Stimmung wurde von der Politik sofort ausgenützt: „Wir wollen keine Zustände wie in Italien“ war im März ein Stehsatz der Regierungspolitiker und der Gedanke an die Triage war deswegen letztlich der ausschlaggebende Faktor, der zum ersten Lockdown führte bzw. diesen relativ problemlos ermöglichte. (Wobei man der Ehrlichkeit halber auch dazusagen muss, dass wir damals viel weniger wussten als heute. Masken zum Beispiel galten zu Beginn des ersten Lockdowns noch als unnötig und nur für das medizinische
Personal als sinnvoll).
Aber was ist denn diese ominöse Triage nun wirklich? Ist sie ein Horrorszenario oder ist sie einfach ein Instrument, das Ärzten zur schnellen Orientierung dient, um gezielter und sinnvoller Hilfsmaßnahmen einsetzen zu können, wenn es einmal drunter und drüber geht oder der Patientenandrang so groß ist, dass man den Überblick verlieren könnte und nicht mehr weiß, wo man anfangen soll?
Natürlich ist die Triage Zweiteres: Sie stellt eine Technik dar, Priorisierungen vorzunehmen und medizinische Hilfe bestmöglich und am meisten nutzbringend einzusetzen. „Triagieren“ bedeutet nämlich zunächst nichts anderes, als nach der Sichtung der Patienten eine Einteilung vorzunehmen und festzulegen, wer sofort Hilfe braucht und wer warten kann. Freilich beinhaltet die Triage auch die Notwendigkeit, zu erkennen, bei welchen Patienten keine Hilfe mehr möglich ist. Das bedeutet aber definitiv nicht, dass die unrettbaren Patienten unversorgt bleiben. Einfachstes Beispiel einer Triage ist der Betrieb einer Notfall-Ambulanz: Wer dort stark blutend, bewusstlos oder in schlechtem Allgemeinzustand eingeliefert wird, der kommt sofort dran, ganz egal, ob dort schon 20 oder 30 Personen mit leichten Verletzungen oder mäßigen Beschwerden auf ihre Behandlung warten. Anders gesagt: Der verstauchte Knöchel von vorgestern, der zum selben Zeitpunkt die Ambulanz aufsucht, zu dem auch der Notarzthubschrauber gerade einen Schwerverletzten gebracht hat, wird naturgemäß zurückgereiht und muss warten, bis der lebensbedrohlich Verletzte versorgt ist.
Ein anderes alltägliches Beispiel: Jedes Vorziehen eines akuten Schmerzpatienten beim Zahnarzt ist bereits eine Form von Triage. Ärzte behandeln immer diejenigen Patienten zuerst, die am dringendsten Hilfe brauchen. Jede Wartezeit ist also letztlich eine Form von Triage, da in jeder Ordination und in jeder Ambulanz immer auch akute Patienten erscheinen, die rasche Hilfe benötigen und deswegen den dort schon Wartenden vorgezogen werden.
Es gibt zum besseren Management dieser Situationen daher schon lange und speziell für Ambulanzen entworfene sogenannte Triage-Systeme. Das bekannteste davon ist das Manchester-Triage-System (MTS), das auch in etlichen österreichischen Spitälern angewendet wird. Das MTS funktioniert nach einer Dringlichkeits-Skala und die Patienten erhalten je nach Art ihrer Erkrankung/Verletzung eine farbliche Kennung, die zeigt, wie akut sie behandelt werden müssen. Die Feststellung dieser Dringlichkeitsstufen erfolgt durch speziell geschulte Ärzte oder besonders ausgebildetes Pflegepersonal. Die Skala reicht von Rot (sofort) über Orange (sehr dringend), Gelb (dringend), bis zu Grün (normal) und Blau (nicht dringend).
Eine Neubewertung der Situation findet jedenfalls regelmäßig statt und es kann sein, dass z. B. ein „Gelber“ nach einer gewissen Zeit „Orange“ wird und vorgezogen werden muss, weil es ihm schlechter geht. Ebenso kann es passieren, dass ein „Blauer“ erst am nächsten Tag drankommt, weil Rote und Orange eben Vorrang haben und falls deren Zahl an einem Tag sehr hoch ist, werden die nicht Akuten verschoben oder weggeschickt. Das ist Alltag.
Die wesentlich heiklere und für Ärzte naturgemäß am meisten herausfordernde Art der Triage ist jene, wenn es um Leben oder Tod geht und diese Entscheidungsnot durch die immer und überall begrenzten Ressourcen entsteht. Dies kann der Fall sein, wenn nach einem Großunfall plötzlich einige oder gar Dutzende Verletzte zu versorgen sind (z. B. nach einem Bus- oder Eisenbahn-Unglück) und zunächst nur ein einziger Notarzt mit seinem Team am Unfallort eintrifft – der Arzt muss dann mit seinen Sanitätern möglichst rasch und effizient triagieren und jenen Patienten zuerst helfen, die am dringendsten seine Hilfe
brauchen.
Eine solche Situation wird sich in den meisten Fällen insofern bald entspannen, da natürlich weitere Einsatzkräfte dazugerufen werden und je nach Unfallort und -Art die Zeit bis zum Eintreffen der weiteren Helfer nicht allzu lange dauert. Trotzdem ist es für den Ersthelfer respektive die Verletzten essenziell, dass die vital Bedrohten raschest diagnostiziert werden und sie ihre Hilfe umgehend bekommen, denn da geht es oft um Minuten (etwa wegen schwerer Blutungen, Brustkobverletzungen etc.). So hart es klingt: Man darf keine Zeit mit Unrettbaren verlieren, denn diese Zeit geht den Rettbaren verloren. Ein Arzt, der mehrere bewusstlose Schwerverletzte zu versorgen hat, muss sich nach bestem Wissen und Gewissen und der Erstdiagnostik entscheiden, wem er zuerst hilft – unter Inkaufnahme des Todes eines anderen Patienten. Das ist weder ethisch verwerflich noch unterlassene ärztliche Hilfeleistung, denn hier gilt der Leitsatz „Ultra posse nemo tenetur“, das heißt übersetzt: Niemand kann (moralisch) zu einer Leistung verpflichtet werden, die einfach nicht leistbar respektive unmöglich ist.
Eine Sonderform der Triage und der „Ultra posse nemo tenetur“- Situation kann auf Intensivstationen (ICU) entstehen, wenn im Rahmen einer Pandemie, die z. B. sehr viele Patienten mit schweren und beatmungspflichtigen Lungenentzündungen oder mit Multiorganversagen hervorbringt, sukzessive immer mehr Intensivpatienten zu versorgen sind als die jeweils betroffene ICU versorgen kann. In so einem Fall müssen die Verantwortlichen zunächst sämtliche Möglichkeiten der stationären Intensiv-Behandlung ausschöpfen und Kontakt mit anderen ICUs in naheliegenden Spitälern aufnehmen, um möglichst vielen Patienten die notwendige Versorgung anbieten zu können. Es ist in so einer Situation beispielsweise auch möglich, leichtere Fälle von der ICU auf die Normalstation zu verlegen und dort mittels transportabler Monitore und Geräte ihre Vitalparameter zu überwachen (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung). Das geschieht auch in „normalen Zeiten“, wenn z. B. eine ICU durch kurzfristig zu großen Patientenandrang überlastet ist. Jedes Spital hat üblicherweise diese Reserven in Vorhalte.
Wenn das absolute (und aus heutiger Sicht völlig unwahrscheinliche) COVID-bedingte nationale Worst-Case-Szenario eintritt und ALLE verfügbaren Intensivbetten im ganzen Land belegt sind bzw. kein Personal mehr zur Verfügung steht, sämtliche Schwerstkranken adäquat zu versorgen, dann muss eine Triage durchgeführt werden, bei der die Ärzte nach den bestehenden klinischen Kriterien abschätzen und festlegen müssen, welche kritisch kranken und an der Beatmungsmaschine befindlichen Patienten die vergleichsweise besten Überlebenschancen haben. Diesen Patienten wird man weiterhin „High Care“ (also Maximal-Medizin samt bei Bedarf künstlicher Beatmung) anbieten und sie entsprechend versorgen.
Diejenigen Patienten, die aus medizinischer Sicht schon in einem so schlechten Zustand sind, dass ihre Überlebenschancen nur noch als sehr gering eingeschätzt werden oder als unrettbar diagnostiziert werden, erhalten ein sogenanntes „palliatives Setting“ und werden von Palliativ-Medizinern übernommen: Sie bekommen Morphium, Infusionen und alle Medikamente, die ihnen Schmerzen, Angst, Atemnot und Durstgefühl nehmen. Das heißt: NIEMAND bleibt unversorgt und es ist auch beim größten anzunehmenden Engpass immer dafür gesorgt, dass sämtliche Patienten medizinische und pflegerische Betreuung erhalten. Andere, leichter Erkrankte müssen dafür hinnnehmen, zurückgestuft oder auch in häusliche Betreuung entlassen zu werden, sofern dies medizinisch vertretbar ist.
Uns muss bewusst sein, dass auch ganz ohne Pandemie seit jeher jeden Tag Ärzte Entscheidungen über Leben und Tod treffen, die prinzipiell jenen der Triage entsprechen: Täglich wird in Krankenhäusern darüber entschieden, ob Maximal-Therapien bei unheilbar und unrettbar kritisch Kranken oder Schwerstverletzten weitergeführt oder abgebrochen werden. Es ist sogar ethisch korrekt, eine medizinisch sinnlose Maximal-Therapie zu beenden, weil der Patient aufgrund seiner Erkrankung keinerlei Überlebenschance mehr hat (wie z.B. bei metastasiertem Krebs im Endstadium oder bei therapieresistentem Multiorganversagen).
Ethisch und medizinisch geboten ist es aber in jedem einzelnen Fall, unrettbare Patienten palliativ zu betreuen.
Jede professionell durchgeführte Triage ist also kein Horrorszenario, sondern ein Hilfsmittel, auf schnellstem Wege die bestmögliche Therapiemöglichkeit für den jeweiligen Patienten herauszufinden und danach individuell anzuwenden.
Dr. Marcus Franz ist Facharzt für Innere Medizin und Allgemeinmediziner. Er war Spitalsdirektor und Abteilungsvorstand und davor jahrelang auch als Notarzt tätig. Franz hat eine internistisch-intensivmedizinische Ausbildung erhalten und war als Entscheider in zahlreichen Triage-Situationen, wie sie oben geschildert wurden, verantwortlich und präsent.
[Autor: M.F. Bild: Pxhere Lizenz: –]