Kann man der „Neuen Zürcher Zeitung“ uneingeschränkt vertrauen?
Die seit 1780 erscheinende „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) gilt neben der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) als eines der Flaggschiffe des europäischen Zeitungsmarktes. Bei unserem bundesdeutschen Nachbarn ist angesichts der weithin gleichgeschalteten Medienlandschaft die Redensart verbreitet, die NZZ sei das „Westfernsehen“ unserer Tage. Dies in Erinnerung an die „DDR“, wo die TV-Zuschauer weitgehend auf die Sender in der Bundesrepublik auswichen, um objektiv informiert zu werden. Heutzutage wechseln anspruchsvolle Leser zur NZZ, legen die tendenziös berichtenden BRD-Medien zur Seite.
Nunmehr hat es den Anschein, als seien auch in der NZZ Nachrichten unterschwellig mit der persönlichen Meinung des Verfassers verquickt. Einzelne Mitarbeiter des Blattes dürften der Versuchung erliegen, in quasi-missionarischer Manier auf die Leserschaft einzuwirken (Haltungsjournalismus). Und dies außerhalb der Kommentarspalten, wo persönliche Meinung durchaus ihren Platz hat.
Ein gutes Beispiel ist die Seite 3 der internationalen NZZ-Ausgabe vom 1. April. Die Druckseite besteht aus einem größeren Beitrag über Ungarn und einem kleineren, der Österreich betrifft. Beide Artikel stammen aus der Feder von Ivo Mijnssen, einem Soziologen aus Zürich, der zurzeit Auslandskorrespondent der NZZ für Österreich und Ungarn ist.
Beide Artikel behandeln, no na, das Thema Virus. Seinen persönlichen Vorlieben lässt Mijnssen freien Lauf. Beim Bericht über Ungarn titelt er: Orban macht sich die Corona-Krise zunutze. Der 38-Jährige mit Lenin-Bart dürfte, so steht zu vermuten, des magyarischen Idioms auch nicht in Ansätzen mächtig sein, sonst würde er richtig Orbán schreiben. Bereits die Überschrift ist eine böswillige Unterstellung, weil der ungarische Premier sich vom Parlament ähnliche Vollmachten geben hat lassen wie Herr Anschober vom Nationalrat. Mijnssen im O-Ton: … Wahlen und Abstimmungen sind ausgesetzt. Offenbar soll damit der Eindruck erweckt werden, in Ungarn werde es in Zukunft keine Wahl zur Volksvertretung geben. Davon kann keine Rede sein: Bloß Nachwahlen sind ausgesetzt (falls der Inhaber des Direktmandats eines Wahlkreises stirbt).
Die Befugnis der ungarischen Volksvertretung, die Ermächtigung jederzeit zurückzunehmen, scheint Mijnssen kaum zu interessieren, denn: Diese Möglichkeit besteht nur in der Theorie, da dafür erneut eine Zweidrittelmehrheit nötig wäre, die ihm ergebene Regierungspartei also gegen Orban stimmen müsste. Tja, so kann man den Erfolg eines Staatsmannes wie Viktor Orbán – die Bürger statten ihm in drei aufeinanderfolgenden Wahlen mit einer Zweidrittelmehrheit aus – zu einem Vorwurf umfunktionieren. Abgerundet wird die Polemik, anders kann man den Bericht kaum nennen, durch den üblichen Sermon wie: Orbán ändere Verfassung wie Wahlgesetz, marginalisiere die kritische Presse und ähnlich oberflächliche Phrasen.
Ganz anders ist der Ton Mijnssen bei seinem zweiten Beitrag. Der Titel: Österreichs Krisenmanagement weckt Vertrauen. Untertitel: Gesundheitsminister Rudolf Anschober ist ein Mann des Dialogs – mit fast diktatorischen Vollmachten. Der Beitrag ist ein einziges Loblied auf Herrn Anschober, bei dem im Gegensatz zu Orbán mit einem Missbrauch seiner Vollmachten keinesfalls zu rechnen sei.
Fazit: Ausgewogener Journalismus schaut anders aus.
[Autor: E.K.-L. Bild: Wikipedia/roland zh Lizenz: CC BY-SA 3.0]