„Russland-Ukraine-Krieg: Neutralität als Lösung“

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Bild: Wikipedia/The Presidential Press and Information Office Lizenz: CC BY 4.0


General a. D. Harald Kujat über bundesdeutsche Waffenlieferungen und einen dualen Ansatz zur Beendigung dieses gefährlichen Konflikts

War der Russland-Ukraine-Krieg zwingend? Kritiker meinen, dass ihn eine stärkere Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen hätte verhindern können.
Harald Kujat: Dieser Krieg ist wie jeder andere kein Naturereignis, sondern hat eine lange politische Vorgeschichte. Henry Kissinger hatte bereits 2015 gewarnt, die Ukraine dürfe weder zum Vorposten der USA gegenüber Russland noch umgekehrt werden. Russland betrachtet die militärische Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der NATO und eine mögliche NATO-Mitgliedschaft als Gefährdung des strategischen Gleichgewichts mit den USA und seiner Sicherheitsinteressen. Seit März 2021 hätte jedem klar sein müssen, dass ein Krieg unvermeidbar ist, wenn die Spannungen nicht durch ernsthafte Verhandlungen über einen Interessenausgleich abgebaut werden.

General a.D. Harald Kujat war bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses sowie des ­NATO- Russ­land-Rates und der NATO-Ukraine-Kom­mission der General­stabs­chefs. (Bild: Wikipedia/Fraktion DIE LINKE. im Bundestag/CC BY 2.0)

Nein zur Nato. Nein zu Trumps Kriegen. Mit diesem Thema lud die Bundestagsfraktion der Linken in die GLS Sprachschule nach Berlin Prenzlauer Berg. Das Thema Frieden gehört zu den Kernthemen der Linken, sodass es über die derzeitige Situation Gesprächsstoff ohne Ende gibt.

„We are fighting a war against Russia“ erklärte die deutsche Außenministerin Baerbock unlängst, während regierungsoffiziell betont wird, dass, solange deutsche Soldaten nicht unmittelbar in Kampfhandlungen eingreifen, Deutschland keine Kriegspartei sei. Wer hat Recht?
Kujat: (lacht) Ich bin kein Völkerrechtler. Die Ministerin müsste jedoch wissen, dass sie verbindlich für die Bundesregierung und damit für Deutschland spricht. Ich sehe diese Aussage vor allem kritisch, weil sie ein Licht darauf wirft, wie die Außenministerin denkt. Der Bundeskanzler hat ihr deutlich widersprochen, aber der Ansehensverlust im Ausland bleibt.

Sie lieferte mit ihrer verstörenden Aussage eine dankbare Vorlage für die russische Propaganda, oder?
Kujat: In der Tat. Es gibt allerdings unter den Völkerrechtlern unterschiedliche Auffassungen darüber, wodurch ein Kriegseintritt vollzogen wird. Die zentrale Aussage eines Gutachtens des Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages vom 16. März 2022 lautet: „Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei beziehungsweise Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.“ Im Grunde ist das völkerrechtliche Argument jedoch nicht so entscheidend.
Die eigentliche Frage lautet, wie Russland auf diese Entwicklung reagiert. Das hängt nicht von unserer Interpretation des Völkerrechts ab. Für Russland spielt sicherlich auch eine Rolle, in welchem Ausmaß sich Deutschland in diesem Krieg neben den USA gegen Russ­land positioniert.

Wie erklären Sie sich den massiven Erwartungsdruck durch deutsche Leitmedien in Richtung einer Lieferung von mehr und immer schwereren Waffen zur Unterstützung der Ukraine?
Kujat: Vielleicht ist es ein Generationenkonflikt, weil die Kriegserinnerung der Älteren noch lebendig ist, während die jüngere Generation die Folgen eines Krieges nicht abzuschätzen vermag. Vor allem führt die einseitige Berichterstattung zu einer völligen Fehleinschätzung der militärischen Lage und den strategischen Fähigkeiten und Optionen beider Seiten sowie der Folgen und Risiken.

Welche Risiken?
Kujat: Die Risiken der Ausweitung des Konflikts auf Deutschland und die NATO und der nuklearen Eskalation. Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen den Auffassungen derjenigen, die wirklich etwas von Krieg, von Sicherheitspolitik und Strategie verstehen und von sogenannten Experten, die vor allem in den Medien meinungsbildend vertreten sind. Indem sie Forderungen unterstützen, ohne den Einsatzwert eines Waffensystems und die Zweck-Mittel-Relation beurteilen zu können, motivieren sie weitergehende Forderungen und fördern eine Wechselwirkung zwischen medialem und ausländischem Druck. Hinzu kommt: Jeder, der auf Vernunft setzt und rät, die Eskalation nicht zu fördern, sondern für ein Ende des Krieges durch einen Verhandlungsfrieden plädiert, wird diskreditiert und aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen.

Ins Auge springt dabei der Wandel früherer Pazifisten hin zu begeisterten Bellizisten. Ehemalige Wehrdienstverweigerer überbieten sich als selbsternannte Panzerexperten. Wie wirkt das auf Sie?
Kujat: Häufig sind es wichtigtuerische, oft auch verantwortungslose Äußerungen, die von Ignoranz gegenüber unseren nationalen Sicherheitsinteressen zeugen. Man könnte auch sagen: sie sind unpatriotisch! Darüber hinaus wird außer Acht gelassen, dass unsere Verfassung ein Friedensgebot enthält, an das nicht nur die Bundesregierung, sondern jeder Bürger gebunden ist. Man könnte die heutige Situation in gewisser Weise mit der Kriegsbegeisterung vor dem 1. Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, vergleichen. Sollten dessen Folgen nicht Mahnung sein, alles zu unternehmen, damit der Ukrainekrieg nicht zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts wird?

Der Bundeskanzler hat Baerbock ­deutlich widersprochen, aber der

„Je länger der Krieg dauert, um so schwieriger wird es sein, einen Frieden auszuhandeln“, so Ihr Credo. Heißt das, dass sich westliche Waffenlieferungen – inklusive der aus Deutschland – kontraproduktiv auswirken könnten?
Kujat: Das hängt davon ab, was damit erreicht werden soll. Wird damit der Zweck verfolgt, der Ukraine zu ermöglichen, die Krim zu erobern? Der ukrainische Oberbefehlshaber General Saluschnyi verlangt viel mehr westliche Waffen, nur um die seit dem 24. Februar besetzten Gebiete freikämpfen zu können. Aber Waffen allein entscheiden keinen Krieg, und die ukrainischen Streitkräfte sind durch hohe Verluste in einer kritischen Lage. Der amerikanische Generalstabschef erklärte kürzlich, die ukrainische Armee hätte das erreicht, wozu sie in der Lage ist. Jetzt sollte verhandelt werden. Deshalb darf der Krieg nicht mit immer weiteren Waffenlieferungen sinnlos verlängert, die zivilen und militärischen Opfer erhöht, die Zerstörung des Landes fortgesetzt und das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa vergrößert werden.

Wie hoch schätzen Sie die Eskalationsgefahr durch diese Waffenlieferungen ein, vor allem wenn sich Befürchtungen um einen möglichen Einsatz russischer Atomwaffen in der Ukraine drehen?
Kujat: Wir bekommen unterschiedliche Signale aus Russland. Einige russische Politiker drohen immer wieder mit einer nuklearen Eskalation. Putin äußert sich wesentlich zurückhaltender, sehr viel vorsichtiger. Russland wird den Einsatz von Nuklearwaffen nur dann in Erwägung ziehen, wenn durch einen militärischen Angriff die Gefahr eines existentiellen Risikos entsteht.

Existentielles Risiko für Russland oder auf dem Gefechtsfeld seiner Truppen in der Ukraine?
Kujat: Für Russland einschließlich der Krim, nicht auf dem Gefechtsfeld, das ist ein wichtiger Unterschied. Oder als Reaktion auf einen Atomangriff auf Russland selbst, das ist der Kern der russischen Nukleardoktrin. Ich denke, dass durch die bisherigen Waffenlieferungen noch keine vergleichbare Lage entstanden ist. Anders wäre es, wenn der Westen jetzt auf die weitergehenden Forderungen der Ukraine mit der Lieferung von Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen und weitreichenden Raketen einginge. Oder wenn NATO-Staaten aktiv in die Kämpfe eingreifen würden.

Sie plädieren für einen dualen Lösungsansatz, den Krieg neben der materiellen Unterstützung mit politischen Mitteln zu begrenzen. Ziel müsse ein Verhandlungsfrieden sein. Wie könnte der aussehen?
Kujat: Die Ukraine müsste bereit sein, keinem militärischen Bündnis beizutreten, d. h., auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichten und den Status eines neutralen Landes annehmen, der international garantiert wird. Ausgeschlossen wären die Stationierung von NATO-Truppen, NATO-Manöver und bilaterale Manöver mit NATO-Truppen auf ukrainischem Territorium.
Die russischsprachige Bevölkerung müsste größere Sicherheit und Minderheitenrechte, also größere Autonomie erhalten. Für die Krim und für Sewastopol gelten gesonderte Bedingungen. Ob sich diese Fragen langfristig bilateral oder mit Hilfe von UN-überwachten Referenden lösen lassen, müssen beide Seiten in Verhandlungen ausloten und setzt die Bereitschaft zu einem Interessenausgleich voraus.

Die Ukraine müsste zur Annahme eines neutralen Status bereit sein, der international garantiert wird.

Und auf russischer und amerikanischer Seite?
Kujat: Russland müsste seine Truppen auf den Stand vor Kriegsbeginn zurückziehen und den neutralen Status der Ukraine völkerrechtsverbindlich anerkennen. Eine Regelung für die russischsprachigen Gebiete ist durch die Annexion der Regionen Cherson und Saporischschja schwieriger geworden, aber nicht unlösbar.
Ein wichtiger Beitrag zu einer Friedensregelung wäre von den USA zu leisten. Das betrifft die Kontrolle der US-Waffensysteme, die Teil der ballistischen Raketenabwehr der NATO in Polen und Rumänien sind, verbunden mit Absprachen über deren Einsatzbedingungen. Eine wichtige Rolle spielen auch die von den USA einseitig gekündigten Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge.
Dazu gehört beispielsweise die Rückkehr zum Vertrag über den „Offenen Himmel“, ein dem INF-Vertrag vergleichbares Abkommen, die Aktualisierung des KSE-Vertrages einschließlich zeitgemäßer vertrauensbildender Maßnahmen, sowie ein neuer, der heutigen Waffentechnologie angepasster bilateraler ABM-Vertrag.

Das Gespräch führte Bernd Kallina.

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