Suwalki-Korridor und Estland

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Autor: E.K.-L. Bild: ZZ-Archiv Lizenz: –


Die baltischen Staaten sollten sich eher nicht auf die NATO verlassen

Litauen, Lettland und Estland – allesamt Mitgliedsstaaten des Nordatlantik-Paktes – hegen die naheliegende Befürchtung, nach dem nunmehr absehbaren Ende der Auseinandersetzungen in der Ukraine die nächsten Gebiete zu sein, die Wladimir Putin anvisiert. Aus seiner Sicht mit gutem Grund: Waren die drei kleinen Länder doch Jahrzehnte hindurch Teil der Sowjetunion und auf ihrem Territorium wohnen viele ethnische Russen, die Moskau in den Jahren nach 1945 dort planmäßig angesiedelt hat. Als Gegengewicht zu den als unzuverlässig angesehenen Balten. Auch erfreute sich der Gebietsstreifen entlang der Ostseeküste des Zuspruchs pensionierter Offiziere, die dort ihr Pensionistendasein verbrachten.

Die Russen in den drei baltischen Staaten zeigen zwar derzeit keine Anzeichen für Illoyalität gegenüber der Staatsmacht, aber in erster Linie bei den älteren Jahrgängen sind die Zurücksetzungen ab 1989 noch in Erinnerung. Damals führten die jungen Republiken ihr jeweiliges Idiom als Staatssprache ein. Dies zur Stärkung der nationalen Identität, waren doch die Angehörigen der  jeweiligen Titularnation nur eine schwache Mehrheit.

In Lettland bloß 52 %, denen satte 34 % ethnische Russen gegenüberstanden (vor allem an der Ostseeküste sowie im Osten, also in Lettgallen an der Grenze zu Weißrussland). Bei der letzten Volkszählung (2011) zählte man 27 % Russen.

In Estland stellten 1989 die Russen 30 % der Bevölkerung, heute sind es noch ein Viertel der Einwohner (jedoch im Osten entlang der Grenze zu Russland bilden sie die große Mehrheit). Nur in Litauen ist es mangels attraktiver Küstenstreifen anders. Dort lebten 1989 neben 79,6 % ethnischen Litauern 9,4 % Russen, deren Anteil dürfte sich inzwischen halbiert haben.

Für den Erwerb der Staatsbürgerschaft wurde in Lettland und Estland eine Sprachprüfung verlangt. Was natürlich bei den bisher privilegierten Russen – sie mussten abrupt ins zweite Glied treten – für Unmut sorgte. Schließlich war das Russische gleichsam die lingua franca und nun sollte man eine bisher völlig fremde baltische (in Estland: finno-ugrische) Sprache eines winzigen Volkes erlernen.

Teils aus Desinteresse, teils wegen des fortgeschrittenen Alters oder der als zu anspruchsvoll empfundenen Prüfung, teils aber auch aus Widerwillen und grundsätzlicher Opposition haben sich viele Angehörige der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe bis heute nicht einbürgern lassen. Sie gelten als Nichtbürger mit Aufenthaltsrecht, in Lettland sind das 10,4 % der Einwohner. Sie haben kein Wahlrecht, müssen andererseits keinen Wehrdienst ableisten.

Die leise Befürchtung im Baltikum, die NATO könne den Raum im Fall einer russischen Spezialoperation, so die Terminologie des Kremls, praktisch nicht verteidigen, hat einen realen Hintergrund. Zwei Szenarien lassen dies erahnen.

Fall eins: Der Suwalki-Korridor zwischen der Westgrenze Weißrusslands und dem südöstlichen Zipfel  des sogenannten Kaliningrader Gebietes (nördliches Ostpreußen mit dem Zentrum Königsberg), welches Teil der Russischen Föderation ist, wird von Moskau für den Nachschub der NATO von Polen in Richtung Baltikum blockiert. Damit wären die drei baltischen Staaten isoliert und verloren.

Die deutsche Tageszeitung Die Welt schreibt bereits 9. Juli 2016:

„… die westlichen Militärs in Warschau machen keinen Hehl daraus, dass vor allem das Baltikum im Ernstfall nicht zu halten ist. Ein Blick auf die Karte macht deutlich, warum. Es geht um die einzige Landverbindung zwischen Polen und Litauen, einen schmalen Korridor, den die Nato-Strategen für den labilsten Teil des Bündnisgebietes halten. Diese sogenannte Lücke von Suwalki, benannt nach einer Stadt im Nordosten Polens, ist nur rund 100 Kilometer breit, stößt im Norden an die russische Exklave Kaliningrad, im Süden an Weißrussland, einen engen militärischen Verbündeten Moskaus.

Durch die Suwalki-Lücke müssten das Gerät und der Nachschub transportiert werden, der nötig wäre, um die baltischen Staaten im Ernstfall zu verteidigen. Für Russland wäre es ein Leichtes, diese Verbindung zu kappen. Um ins Baltikum zu gelangen, hätten die Verbündeten allenfalls zwischen 36 und 60 Stunden Zeit, bevor die russischen Truppen die estnischen und lettischen Hauptstädte Tallinn und Riga einnehmen würden. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls kürzlich eine Studie des renommierten US-Thinktanks RAND. Zu den Autoren zählen der frühere Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark und Ex-Nato-Kommandeur Egon Ramms.“

Fall zwei: Die russische Armee besetzt handstreichartig das kleine Estland (Fläche rund 45.000 qkm, sohin die Hälfte von Österreich). Das estnische Heer (5.500 Mann) sowie im Land stationierten paar Tausend NATO-Soldaten und eine Handvoll Flugzeuge würden dabei rasch ausgeschaltet. Die Aktion wäre abgeschlossen, bevor überhaupt NATO-Verstärkung eintrifft. Und einen Atomkrieg wird das Bündnis wegen des Kleinstaates kaum riskieren.

Alles in allem: Wer in Litauen, Lettland und Estland auf die Hilfe der NATO setzt, der bewegt sich  auf verdammt dünnem Eis.

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