„USA wollten China in Atmosphäre des Bürgerkriegs halten“

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Professor Anthony Carty über völkerrechtliche Fragen zur Taiwan-Frage, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Parallelen zur derzeitigen Lage in ­Ostasien mit der Situation 1914 in Europa.

Zuletzt haben zwischen den USA und China die Spannungen um Taiwan deutlich zugenommen. Sehen Sie die Gefahr, dass die Welt – wie 1914 und in den Jahren davor – scheinbar unaufhaltsam in einen Krieg der großen Mächte hineinschlittert? Und sind die manchmal aufgestellten Analogien zwischen dem heutigen China und dem Deutschen Reich vor 1914 (beides sind aufstrebende Großmächte, welche die Hegemonialmächte – damals das Britische Empire und heute die USA – herausfordern) zulässig?
Anthony Carty: Was die Analogie mit 1914 betrifft: Die USA sind ein internationaler Hegemon, und diese existierende Macht fühlt sich bedroht durch eine aufstrebende Macht, und wir kennen dieses Beispiel bereits aus der griechischen Antike zwischen Sparta und Athen. Athen hat Sparta nicht direkt bedroht, aber seine Macht wuchs und Sparta wurde nervös. Und wir dürfen nicht vergessen, dass China 1945 – völlig anders als heute – ein extrem schwaches und gespaltenes Land war und keine Gefahr für die Vereinigten Staaten darstellen konnte. Und im Krieg gegen Japan waren sowohl Tschiang Kai-scheck als auch Mao Zedong Verbündete der USA, während die Sowjetunion der große Rivale war.
Der Politikwissenschafter John J. Mearsheimer glaubt, dass die derzeitige Lage gefährlicher ist als der Kalte Krieg in Europa, weil heute die Konfliktlinien nicht so klar sind. Die Entscheidung der USA, die chinesische Festlandküste wie einen Hafen der Vereinigten Staaten zu behandeln, wie es vom amerikanischen Strategen George Kennan und General MacArthur ausgearbeitet wurde, ist für China natürlich provokativ. Japan und Australien sind Verbündete, die bereit sind, die USA zu unterstützen, und die Lage ist vergleichbar mit der Lage von 1914 und das ist gefährlich.

Dr. Anthony Carty ist Professor für Völkerrecht am Beijing Institute of Technology in Peking. Zudem hat Carty den Sir Y K Pao-Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Universität von Hongkong inne. Zuvor wirkte er als Professor für Öffentliches Recht an der Universität Aberdeen (­Schottland). (Bild: Privat)

Vieles deutet auf eine schrittweise Abkehr der USA von der Ein-China-Politik, wie sie gegenüber Peking 1972 im Shanghai Communique zugesagt wurde, hin. Was ist generell von der Ein-China-Politik zu halten, weil Taiwan de facto ein unabhängiger Staat ist?
Carty: Taiwan war vom 17. Jahrhundert an Teil Chinas und ging im Krieg mit Japan 1895 verloren. 1945 kam Taiwan unter die Verwaltung der chinesischen nationalistischen Regierung von Tschiang Kai-scheck. Denn auf der Konferenz von Potsdam im Sommer 1945 wurde vereinbart, dass alle chinesischen Gebiete, die von Japan erobert worden waren, an China zurückgegeben werden. Als 1951 mit Japan der Friedensvertrag von San Francisco unterzeichnet wurde, war in Peking die chinesische kommunistische Partei an der Macht. Aus Dokumenten des US-Außenministeriums geht deutlich hervor, dass der Vereinigte Generalstab und John Foster Dulles, der in Bezug auf die Konferenz und den Friedensvertrag von San Francisco von Präsident Truman mit besonderen Vollmachten ausgestattet worden war, Präsident Truman sagten, dass, was immer auch immer die rechtliche Frage ist, die Insel nicht an China übergeben werden soll.
Zwar gibt es auf Taiwan eine autochthone taiwanesische Minderheit, die ethnisch keine Chinesen sind, aber sowohl die derzeitige Regierungspartei, die Demokratische Fortschrittspartei, als auch Kuomintang-Partei, die früher an der Macht war, sind Nachfolger der nationalistischen Armee, die 1949 nach Taiwan kam. Und was nun das Völkerrecht betrifft, gilt folgendes: Taiwan ist das Ergebnis eines Bürgerkrieges und wird deshalb nicht als legitimer Staat akzeptiert. Zudem wird Taiwan nur von wenigen Ländern als unabhängiger Staat anerkennt. Und es ist auch bekannt, dass die USA eine Flotte in die Straße von Taiwan schickten, um zu verhindern, dass Mao Zedong und die Kommunisten auf die Insel kommen. Ohne die Militärintervention der USA 1950 wäre Taiwan wieder in China integriert worden.
Hinzu kommt, dass beim Friedensvertrag von San Francisco China ausgeschlossen war, aber an einem Friedensvertrag alle Parteien teilnehmen sollen. Wäre China aber Vertragspartei gewesen, dann wäre das Taiwan an China zurückgegeben worden. China argumentiert nun, weil Taiwan ein Teil Chinas ist, stellte es keine Verletzung des Völkerrechts dar, wenn es zur Integration Taiwans in sein Staatsgebiet Gewalt anwendet. Und als in Spanien die katalanische Regionalregierung ein erfolgreiches Unabhängigkeitsreferendum abhielt, ließ es die katalanische Führung verhaften, und die Europäische Union protestierte nicht dagegen – was normal ist.

Ohne die Militärintervention der USA 1950 wäre Taiwan wieder in China integriert worden.

Sie haben sich ausführlich mit europäischen Unabhängigkeitsbewegungen, vor allem mit Schottland, beschäftigt. Wie sehen Sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Bezug auf Taiwan?
Carty: Das Selbstbestimmungsrecht ist eine sehr komplizierte Materie des Völkerrechts: Das wesentliche Völkerrechtsprinzip, wie es in UN-Resolutionen oder Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes zum Ausdruck kommt, ist, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker keine Begründung darstellt, die territoriale Integrität bestehender Staaten zu untergraben.

Was bedeutet dies in Bezug auf Taiwan?
Carty: Der Konflikt zwischen China und Taiwan ist eigentlich ein Konflikt zwischen Taiwan und dem Westen, und die westlichen Länder nehmen mit großer Mehrheit an, dass es kein Abspaltungsrecht gibt. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien und andere Länder haben wiederholt anerkannt, dass Taiwan ein integraler Bestandteil Chinas ist. Wenn an China Kritik geübt wird an seiner Minderheitenpolitik –etwa in Xinjiang –, dann orientiert sich diese Kritik an westlichen Standards. Dass andere Staaten ihre Minderheiten – in Bezug auf die USA sind die Indianer zu nennen – assimiliert oder marginalisiert haben, wird natürlich nicht erwähnt.

Es gibt kein Recht von Staaten zu intervenieren oder gegen eine wachsende Macht Zwang anzuwenden.

Welche Rolle spielt in Bezug auf Taiwan das völkerrechtliche Gewaltanwendungsverbot?
Carty: Der Zweck des völkerrechtlichen Gewaltanwendungsverbotes, wie es in der UN-Charta zum Ausdruck kommt, besteht darin, kriegerische Konflikte zu stoppen. Taiwans De-facto-Unabhängigkeit – es hat eine Armee, eine Marine und eine Luftwaffe – hat zur Folge, dass China Taiwan nur in einem Krieg besiegen könnte, was sehr blutig wäre. Auch wenn Taiwan de jure völkerrechtlich nicht als unabhängiger Staat anerkannt ist, ist de facto aber fraglich, ob China im Einklang mit dem Gewaltanwendungsverbot in Taiwan einmarschieren könnte.
Meiner Auffassung nach ist das, was die USA 1950 militärisch taten, China in einer Atmosphäre des Bürgerkriegs zu behalten und Taiwan von China getrennt zu halten. Eigentlich ist Taiwan das Land, das 1949/50 von der nationalistischen Armee erobert und besetzt wurde.

Washington fördert auf vielfache Weise, etwa über die halbstaatliche Stiftung National Endowment for Democracy (NED), Organisationen von tibetischen bzw. uigurischen Separatisten. Sind solche Aktivitäten vereinbar mit dem völkerrechtlichen Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten?
Carty: Die Nicht-Einmischung ist ein Völkerrechtsprinzip und wurde etwa in der Resolution der UN-Vollversammlung von 1965 und, noch wichtiger, 1970 in der Deklaration über das Prinzip der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Staaten zum Ausdruck gebracht. Und dieses Prinzip wurde auch vom Internationalen Gerichtshof im Fall Nicaragua gegen die Vereinigten Staaten bestätigt. Der Gerichtshof stellte fest, dass die USA das Völkerrecht durch militärische Unterstützung von Anti-Regierungs-Rebellen verletzt hatten. Ich denke nicht, dass Amerika bei Konflikten seine Politik geändert hat.

Für Spannungen zwischen den USA und China sorgen auch die Ambitionen Chinas im pazifischen Raum und insbesondere der Ausbau der chinesischen Marine. Soweit ich informiert bin, gibt es kein völkerrechtliches Verbot, das geopolitische Ambitionen oder den Ausbau der Marine verbietet, oder irre mich da?
Carty: Hier geht es um die Eindämmungspolitik der USA gegenüber China, die, wie aus den Aufzeichnungen von John Foster Dulles hervorgeht, 1945 begann, weil die USA dachten, China sei zu schwach, um sich einer sowjetischen Invasion zu widersetzen. Die Kalte-Krieg-Strategie gegenüber der Sowjetunion, aber nicht gegenüber China, war die Gründung von Militärstützpunkten in Okinawa und in Südkorea, und Japan hätte 1950 China aus Taiwan und aus dem Südchinesischen Meer draußenhalten können. Und wie Sie in Ihrer Frage andeuten, gibt es keine völkerrechtliche Bestimmung, die einem Staat verbietet, seine militärische Stärke auszubauen. Der Völkerrechtler Henry Wheaton hat es in den 1830er-Jahren in seinem Standardlehrbuch formuliert. Er befasste sich mit der aufstrebenden Macht, wobei er die Vereinigten Staaten im Auge hatte. Und er sagte, es gibt kein Recht von Staaten zu intervenieren oder gegen eine wachsende Macht Zwang anzuwenden.

Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.

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