Reaktionäres Tagebuch
Moderator: Sehr geehrte Mitgefangene, geschätzte Mitgeiseln, honorierte Häscher, hochdotierte Zensoren. Ich hoffe, ich habe niemanden vergessen, andernfalls wird das Ministerium für Gesundheit einen Strafzettel übersenden.
Gesundheitsminister: Schon notiert.
Moderator: Danke für die Information vorab. Die Ungewissheit hätte mich noch schlechter schlafen lassen.
Gesundheitsminister: Sehr gerne. Schlaflosigkeit ist schlecht für das Immunsystem.
Moderator: Ähm. Äh. Fein. Jedenfalls darf ich die gewohnte Runde herzlich willkommen heißen. Neu bei uns ist der Botschafter der Volksrepublik China. Dieser wohnt uns fortan bei, als permanente Augen und Ohren des Zentralkomitees Chinas, gemäß Beschluss des Ministeriums für gesundheitspolitische Wahrhaftigkeit.
Botschafter: Guten Abend.
Verbotener Oppositionspolitiker: Wie gut kann der Abend jetzt noch werden…
Gesundheitsminister: Sicherheitsdienst!
Botschafter: Danke.
Gesundheitsminister: Gerne.
Moderator: Äh. Ähm. Gut. Wir müssen uns leider von einem Vertreter der Opposition verabschieden. Eine drängende gesundheitspolitische Angelegenheit verunmöglicht seine weitere Anwesenheit.
Gesundheitsminister: Kommen wir zur ersten Fragerunde.
Moderator: Ist das nicht meine Aufgabe?
Botschafter: Sollen wir Ihre weitere Anwesenheit auch aus wichtigen Gründen verunmöglichen?
Moderator: Nein. Schon gut. Bitte. Welche erste Fragerunde möchten Sie starten, Herr Minister?
Gesundheitsminister: Was kann uns nach den vielen Jahren des Virus so sicher machen, dass wir das Virus beherrschen?
Konservativer: Das ist eine exzellente Frage und zugleich ein brillanter Einwand. Wir wissen einfach zu wenig über das Virus. Es wäre unverantwortlich jetzt irgendwelche Lockerungen vorzunehmen. Wir kämpfen jetzt mit der unzähligen Mutation des Virus. Und es ist mit weiteren Mutationen zu rechnen. Möglicherweise wird es unendliche Mutationen geben.
Sozialdemokrat: Für gewöhnlich fällt es mir außerordentlich schwer dem Kollegen recht zu geben, da unseren ideologische Positionen unvereinbar gegenüberstehen, aber im Sinne der Gesamtverantwortung für unsere Gesellschaft muss ich dem Kollegen recht geben. Möglicherweise müssen wir eine weitere Verlängerung des Lockdowns in Betracht ziehen.
Liberaler: Hier muss ich doch eines zu bedenken geben. Wir erleben jetzt das dritte Jahr des Lockdowns. Der eine oder andere Unternehmer, Händler oder Angestellte ist bereits in die eine oder andere Schwierigkeit geraten. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte keinen Öffnungsorgien irgendwelchen Vorschub leisten. Aber können wir nicht eine leichte Lockerung andenken?
Sozialist: Das war ja zu erwarten. Das sind die üblichen unverantwortlichen Wahnsinnigkeiten gekleidet im Gewand des bürgerlichen Pragmatismus. So lange ein einziger Mensch an irgendeiner Form des Virus positiv getestet werden kann, wird es niemals irgendeine Form der Lockerung geben.
Grüne: Diesem Zugang schließe ich mich an vollinhaltlich an. Jedoch muss ich meine Empörung darüber zum Ausdruck bringen, dass die Errettung des Klimas nicht durch die Errettung des Klimas erfolgt, sondern durch die Errettung der Gesundheit. Wir konnten dank der Lockdowns den CO2-Ausstoß um 50 Prozent verringern.
Liberaler: Leider haben wir auch die Wirtschaftsleistung um 50 Prozent verringert.
Botschafter: Derartiger Defätismus gefällt mir nicht.
Gesundheitsminister: Sicherheitsdienst!
Moderator: Aber das war die Stimme der erlaubten Opposition.
Botschafter: Wir wollen hier keine Zustände wie in Hongkong. Das gefällt mir nicht.
Gesundheitsminister: Sicherheitsdienst!
Moderator: ….
[Autor: G.B. Bild: PxHere Lizenz: –]