“Den ‘typischen Österreicher’ gibt es nicht”

by admin2

Psychotherapeutin Rotraud A. Perner über das Verhalten der Österreicher während der Corona-Krise und deren Eigenarten und Eigentümlichkeiten

Frau Perner, wir befinden uns nun am Ende einer veritablen weltweiten Viruskrise. Wie ist es Ihnen persönlich in diesen Tagen und Wochen ergangen?
Rotraud Perner: Entspannt – ich bin eine native Asketin und Eremitin mit einer 20.000-Bücher-Bibliothek, habe daher mein Aktivitätsbedürfnis mit Forschen und Schreiben und als u. a. auch Projekt und Unternehmensberaterin sorge ich immer für Rücklagen, wie es sich gehört, daher haben mich die Absagen und Ausfälle bislang nicht in Angst versetzt. Und da mein Firmenverbund weitgehend ein Familienbetrieb (s. das Foto auf der Startseite von www.perner.info) ist, hatten wir jetzt endlich auch mal ausreichend Zeit für unsere Projektplanungen.

Dr. Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin und evangelische Theologin. Sie publizierte zahlreiche Bücher. Ihr neuestes Buch – „(Über)Leben in interessanten Zeiten“ – erschien Anfang April als e-book bei Amazon. (Bild: Robin N. Perner)

 

Österreich dürfte im Verhältnis zu anderen Ländern verhältnismäßig gut davon gekommen sein. Worauf kann man das ihrer Meinung nach zurückführen?
Perner: Auf die frühen und strengen Restriktionen und die hohe Kooperationsbereitschaft – vor allem auch der Oppositionsparteien.

Vielfach, vor allem in Meinungsumfragen, wird der österreichischen Regierung in dieser Situation eine bedeutende Rolle in der Durchsetzung einer bestimmenden Rolle zugeschrieben . Kann man das so sagen?
Perner: Nicht nur der Regierung, sondern allen, die sie dabei unterstützt haben! Eben auch die Opposition (zumindest bis Ostern), aber auch etliche EU-Staaten, die WHO und nicht zu vergessen die Medien, die ja als Firmen und Arbeitgeber selbst auch betroffen waren und noch sind.

Quarantäne, Reiseverbote und eine ganze Reihe weiterer schwerwiegender Maßnahmen sind den Österreichern dabei oktroyiert worden. Viele sind bis heute nicht aufgehoben. Und die meisten Österreicher halten trotzdem still und folgen im Wesentlichen den Anordnungen der Regierung. Ist das eigentlich ein Normalzustand, oder ist so etwas in einer Demokratie auch durchaus üblich?
Perner: Ich sehe zwei Ursachen: erstens pflegen Österreicher in Krisensituationen – denken wir an das Hochwasser 2002 – sehr unterstützend zu reagieren, und eine Pandemie ist ja eine Extremsituation. Normalzustand wird es erst geben, wenn es eine Impfung gibt oder anderes Gleichwertiges. Zweitens gibt es ja die Vergleiche mit anderen Ländern: Das kaum restriktive Schweden gibt im Rückblick seine Fehler zu – und Boris Johnson sieht auch vieles anders, nachdem er selbst an COVID-19 erkrankte. USA, Brasilien … die Österreicher denken da schon mit und „sich ihr Teil“ – (C) Grillparzer –, nämlich was das für sie selbst bedeutet.

Kann man eigentlich auch davon ausgehen, dass sich der typische Österreicher eher zu beugen bereit ist, wenn eine Obrigkeit, in diesem Fall die Regierung, etwas anordnet?
Perner: Seit der Milgramstudie, dem Stanford-Prison-Experiment und ähnlichen Wiederholungsstudien (z. B. Grete Schurz in Graz, s. Peter Huemer/Grete Schurz, „Unterwerfung. Über den destruktiven Gehorsam“, Zsolnay 1991 – da hab ich auch mitgeschrieben) wissen wir, dass Widerstand meist erst aufkeimt, wenn man an der „Obrigkeit“ zu zweifeln beginnt. Dieser Mut zum Zweifel gehört eigentlich schon in die „Politische Bildung“ im höheren Schulunterricht, deswegen bin ich ja für Ethik für alle. Den typischen Österreicher gibt es übrigens nicht: zwischen den „wilden“ Tirolern und Steirern, den „heiteren“ Kärntnern und den eher diplomatischen anderen Bundesländlern bestehen ja große Unterschiede – und das hat mit der jeweiligen Geschichte der Regionen zu tun, mit Identität und Identifi kationsfi guren. Derzeit boomt in der Psychologie die „Bindungs-Forschung“, primär in Hinblick auf Kleinkinder. Man könnte sie (und wird vermutlich auch) auf ideologische Bindungen ausdehnen … und wird vermutlich immer wieder auf das Bindungsverhalten der frühen Kindheit stoßen: Staat oder Kirche als Elternersatz und dementsprechend Widerstand oder Unterwerfung.

Wie verändert sich dieses so vorhandene „Unterordnungsverhalten“ der Österreicher durch die voranschreitende Vermischung aufgrund des laufenden Zuzugs?
Perner: Da muss man fragen: Welchen Zuzug? Den aus Rumänien, Serbien … ehemals kommunistischen Oststaaten? Oder? Im Endeffekt geht es immer darum, ob die österreichischen Gesetze und Ordnungsinstanzen respektiert werden – wieder eine Aufgabe der „Politischen Bildung“ – oder jemand aus Eitelkeit (ich erinnere an die „Gurten-Anlege-Abwehr“ oder EAV: „Echte Helden brauchen kein Kondom“), Dominanzbedürfnis oder auch kriminellen Motiven sich als „Outlaw“ oder „Held des Widerstands“ inszeniert. Sich politisch zu engagieren und organisieren entspricht ja nicht den fi lmischen Vorbildern und ist außerdem zeitaufwändig und intellektuell herausfordernd.

Gibt es so etwas wie eine „österreichische Seele“, eine besondere Eigenschaft, die uns Österreicher kennzeichnet, wenn es um Obrigkeitshörigkeit geht?
Perner: Den Österreichern wird häufig eine besondere Begabung zur Diplomatie – „Mir wern kan Richter brauchen“ – zugesprochen – oder negativ interpretiert: zu Lippenbekenntnissen, Doppelmoral bzw. einem „inneren Herrn Karl“. Man kann das auch als Rest der Überlebenstaktik aus dem Vielvölkerstaat des 19. Jahrhunderts bezeichnen – aber eigentlich betrifft das primär die „Wiener Seeligkeit“. Zwischen Schnitzellust und Spritzweinschweben: Gemütlichkeit als Schutzpanzer (auch nach der Sperrstund).

Spielt da möglicherweise unsere jahrhundertelange monarchistische Vergangenheit eine Rolle?
Perner: Ich würde nicht monarchistisch sagen – denn die Monarchie-Nostalgie der 1950-er Jahre ist weitgehend dekonstruiert. Aber die Ablehnung und Abwehr der Spannungen zwischen Lagern – damals Balkanbewohnern,Böhmen, Italienern, Galiziern, Ungarn etc. und später zwischen „Hahnenschwänzlern“ und „Schutzbündlern“ (deren Ausläufer ich als Landtagskandidatin in den Wahlkämpfen der 1970-er Jahre in Favoriten noch live miterlebt habe) erlebe ich nach wie vor (und war auch ein wesentliches Ergebnis meiner Forschungen zur Bürgernähe 2020).

Auch jetzt, wo das Interesse an dem Virus deutlich abgenommen hat und die wirtschaftlichen Probleme in den Vordergrund rücken, benehmen sich die meisten Österreicher immer noch wie mitten im Krisenstatus. Ist das eigentlich normal und verständlich?
Perner: Zur „Diplomatie“ der Österreicher gehört auch das Abwarten: „Schau a mal …“ In meinem Buch „(Über)leben in interessanten Zeiten“ habe ich erklärt, dass Trauma- oder Schock-Erfahrungen in Phasen bewältigt werden: zuerst ist man wie gelähmt, d. h. reagiert nicht gleich, dann beginnt die hektische Aktivität des Nichtwahrhaben- Wollens der Bedrohung (dazu gehören z.B. die Hamsterkäufe), die dritte Phase ist eine depressive – man ist passiv und nimmt alles hin, trauert um Verlorenes, sucht Bestätigung. Danach folgt die vierte Phase, die ich die Rache-Phase nenne: man sucht Schuldige, klagt an, regt sich auf … das ist aber „nur“ das Anzeichen, dass man seelisch den Schock überwunden hat – und da besteht Gefahr, dass das politisch ausgenutzt wird. (Das ist etwa zu Ostern eingetreten.) Den Ablauf dieser Phasen kann man gut erkennen, wenn man betrachtet, wann sich welcher Staat (repräsentiert durch die Äußerungen der Meinungs- Lenker) in welcher Phase befi ndet / befunden hat. Gesellschaftlich richtig wäre hingegen, vernünftig Bilanz zu ziehen: Wo hat sich Veränderungsbedarf gezeigt? – z. B. in der Spitalsrealität, im fi skalischen Rechnungswesen, an fehlenden Berufsvertretungen, an fehlenden Branchenkooperationen etc. und an Transparenz! Was hat sich bewährt und sollte weitergeführt werde? – z. B. Digitalisierung in manchen Branchen – und auch im Bildungsbereich.) Wobei gesellschaftlich heißt: gemeinsam mit allen wahlwerbenden Parteien (und nicht nur als Propaganda für die eigene Partei bzw. den eigenen Jahresbericht!)

Die verordneten Maßnahmen werden vereinzelt doch als deutlich übertrieben eingestuft, vergleicht man sie mit ähnlichen Situationen in vorangegangenen Jahren. Ist das etwas, was die Österreicher doch langsam zur Kenntnis zu nehmen bereit sind?
Perner: Ich sehe die Maßnahmen nicht als übertrieben sondern als Beweis, dass sie gewirkt haben – bei einem darauf nicht vorbereiteten Gesundheitswesen! Konstruktive Kritik halte ich für dringend notwendig, weil in Zeiten der realen Globalisierung (Reisetätigkeit, neue Völkerwanderung) neue Wege ersonnen werden müssen – auch virtuelle. Es gilt also, in die Zukunft zu blicken (und nicht an der Vergangenheit herumzunörgeln) und dabei die staatlichen Gesamtinteressen über die unternehmerischen Einzelinteressen zu stellen: Wir brauchen erschwingliche Internet-Zugänge für alle, und möglicherweise dazu eine Vereinheitlichung der Internet-Provider. Wenn propagiert wurde: Wohnen sei ein Menschenrecht, so sage ich heute: Kommunikation ist ein Menschenrecht! Dazu zähle ich auch die Staat-Bürger-Kommunikation: mir fällt auf, dass es an Wissen um die Organisation des Staates mangelt – denn nur wie Pamela Rendi-Wagner Geldleistungen des Staates zu fordern, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, woher das Geld kommen soll (à la „das Geld kommt von der Bank, der Strom aus der Steckdose, die Milch vom BILLA, …“), ist kindlich naiv. Ich habe 1968–1976 in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der OeNB gearbeitet (teilweise im selben Zimmer mit Vranitzky) und damals dominierten tagtäglich die Diskussionen um Deficit Spending (und John Kenneth Galbraight sogar noch live im Generalratssitzungssaal erlebt) und Thatchers Austerity-Politik. Aber damals gab es keine Globalisierung, kein E-Commerce, keine sozialen Medien … aber dafür einen breiten persönlichen kommunikativen Austausch, und in dem liegt die Innovationskraft!

Wie soll es nun weiter gehen? Wann werden die Österreicher wieder endgültig zur Normalität zurückkehren?
Perner: Endgültig wird man sicher erst ein Normalitätsgefühl verspüren, wenn es eine erschwingliche (!) Impfung gibt. Und wenn alles Systemerhaltende durch nationale Kontrolle abgesichert ist – Lebensmittel, Medikamente, Schutzvorkehrungen. Internationale Zusammenarbeit ist wichtig – aber Teil davon zu sein, bedeutet nicht nur Käufer sein zu dürfen, sondern auch Produzent. Ich sehe die Aufgabe nicht in einer Rückkehr sondern in einer besseren, gerechteren Neugestaltung, an der alle, die wollen, mitwirken können – lokal, regional, im persönlichen Zusammenwirken – und ihnen dazu die nötige Bildung, d. h. Wissen und Können, bürgernah zu vermitteln.

Das Gespräch führte Walter Tributsch.

[Autor: Bild: Wikipedia Lizenz: –]

Das könnte Sie auch interessieren