Ein Philosoph regt zum Nachdenken an

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Giorgio Agamben über die Rolle der Kirche in unseren Tagen

In seinem Kommentar in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) vom 15. April wirft der italienische Philosoph Fragen auf, die so manchen schon längere Zeit umhertreiben. Schon der Untertitel ist schonungslos in seiner Diagnose: Ein Land, ja eine Kultur implodiert gerade, und niemanden scheint es zu kümmern. Was spielt sich gerade vor unseren Augen in den Ländern ab, die von sich behaupten, sie seien zivilisiert?

 Agamben sieht die Gesellschaft im Angesicht einer Krankheit ethisch und politisch zusammenbrechen, ohne dass man dies bemerke, sieht die Schwelle überschritten, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trenne. Er stellt die Frage nach der Grenze, jenseits derer man nicht bereit sei, auf grundlegende Prinzipien zu verzichten.

In erster Linie die Katholische Kirche steht im Zentrum seiner aufwühlenden Ausführungen. Da können wir Passagen lesen, die es in sich haben: „Der erste und vielleicht schwerwiegendste Punkt betrifft die Körper der toten Personen. Wie konnten wir nur im Namen eines Risikos, das wir nicht näher zu bestimmen vermochten, hinnehmen, dass die uns lieben Menschen und überhaupt alle Menschen in den meisten Fällen nicht nur einsam sterben mussten, sondern dass ihre Leichen verbrannt wurden, ohne bestattet zu werden? Dies ist in der Geschichte von der mythischen griechischen Königstochter Antigone bis heute nie geschehen.“

An sich sei die Aufgabe der Kirche, über die Würde des Menschen zu wachen. Jene Institution, die in alter Zeit die damalige Philosophie (darunter verstanden die Menschen alle Wissenschaften abseits von Glauben, Medizin und Juristerey) als ihre Magd betrachtet habe: Philosophia ancilla theologiae. Und heute? Agamben dazu: … die Kirche, die – indem sie sich zur Magd der Wissenschaft gemacht hat, welche mittlerweile zur neuen Religion unserer Zeit geworden ist – ihre wesentlichen Prinzipien radikal verleugnet. Die Kirche in unseren Tagen, unter dem Pontifikat eines gewissen Franziskus, habe vergessen, „dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.“

Auch die gewöhnlichen Menschen kommen nicht ungeschoren davon. Denn wir hätten bedenkenlos hingenommen, dass unsere Bewegungsfreiheit in einem Ausmass eingeschränkt werde, wie dies zuvor nie geschehen sei, nicht einmal während der beiden Weltkriege. Wir fügten uns darein, die Pflege unserer Freundschafts- und Liebesbeziehungen einzustellen, weil unser Nächster eine potentielle Ansteckungsquelle sei.

Giorgio Agamben schließt mit einer Wortfolge, die zum Nachdenken anregt: Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten.

[Autor: E.K.-L. Bild: Wikipedia/Laurom Lizenz: CC BY-SA 3.0]

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