Ja, so grau, grau, grau blüht der Enzian …

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Autor: E.K.-L. Bild: Wikipedia/Fronteiras do Pensamento Lizenz: CC BY-SA 2.0


Über das neue Werk von Peter Sloterdijk

Na eh, Sie haben recht: Es soll blau, blau, blau heißen. Das weiß nicht nur Heino. Mit grau fängt man in Liedertexten nicht viel an.

Und doch: Peter Sloterdijk (75) denkt – das hätte niemand ernsthaft erwartet! – über die Farbe grau nach. Aber warum beschäftigt sich ein Philosoph mit einer einzelnen Farbe, anstatt mit Ethik, Metaphysik oder Logik? Und weswegen ausgerechnet grau? Den Anstoß dafür gab vielleicht Platons Höhlengleichnis. Die dortigen Schatten waren vermutlich in einem Grauton gehalten. Vor Sloterdijk befassen sich Hegel, Heidegger und später Nietzsche mit der gemeinhin als zwielichtig eingeschätzten Farbe. Letzterer empfindet das Grau der Felsen und Steine als geistige Befreiung, bringt es philosophisch zum Sprechen.

Peter Sloterdijk folgt unterhaltsam-philosophisch dem grauen Faden durch die Philosophie-, Kunst- und Mentalitätsgeschichte, begibt sich breit denkend und sein Sujet metaphorisch weit auffächernd in die Grauzonen nicht nur der Philosophie, sondern auch der Politik, der Fotografie, der Literatur und des Christentums, befasst sich mit der Rot-Vergrauung der „DDR“, mit Graustufenphotographie und lebensfeindlichen Landschaften in der Literatur. Indem er das Grau als Metapher heranzieht, liefert er eine Vielzahl bestechender Belege dafür, dass die Farbe grau minder abstoßend sein kann.

Die Farbe grau – ist es eigentlich eine Farbe oder doch eher ein diffuses nebeliges Gemisch aus schwarz und weiß? – hat kein gutes Image. Grau, das ist die Maus, die Ratte. Wer will denn ständig in den grauen Himmel einer Großstadt schauen oder von grauen Gedanken geplagt werden? Wer möchte schon, wenn auch bloß in metaphorischem Sinn, eine graue Maus sein – im Freundeskreis, in den Augen des anderen Geschlechts, bei der Arbeit, wo auch immer? Die graue Maus, das ist der unscheinbare, nichtssagende Durchschnittstyp, sozusagen der Dutzendmensch.

Was die Literatur angeht, so fällt einem Franz Kafka ein. Dessen Romanhelden wandeln im trübgrauen Behördenlicht durch lange Korridore, verlaufen sich im Schloss. Andererseits: Wie schön das Grau sein, wie zärtlich man es betrachten kann, das demonstriert Sloterdijk anhand von Theodor Storms Gedicht Die Stadt, einer Ode auf dessen graue Heimatstadt Husum.

Vom Eigenschaftswort grau leitet sich das Hauptwort Grauen ab, mit weiteren wenig einnehmenden Varianten wie grauenhaft, grauenvoll, das graue Haar gemahnt an die Endlichkeit, gefürchtet ist der Graue Star, eine Erkrankung des Auges, grau ist der Alltag (in Fred Bertelmanns bekannten Lied „Der lachende  Vagabund“ heißt es: Selbst für die Fürsten soll‘s den grauen Alltag geben …), Grauschleier, man wird mit den Jahren alt und grau.

Die Grauen Panther sind vermutlich eine Splittergruppe militanter Alter. Grau ist das von Mannsbildern wenig begehrte Mauerblümchen. In Goethes Faust eins erschrickt Gretchen mit den Worten „Heinrich! Mir graut’s vor dir“, die Grauzone ist voller Abgründe und Zwischentöne, nichts Klares und Eindeutiges ist damit verbunden.

Dass man das Grau in seiner ganzen Unscheinbarkeit und Indifferenz, seinem Nichtweiß und Nichtschwarz, seiner Position im Dämmerlicht zwischen Hell und Dunkel anders sehen, behandeln und mitunter positiv betrachten kann, demonstriert Sloterdijk mit seinem neuen Buch „Wer noch kein Grau gedacht hatEine Farbenlehre“, 286 Seiten, Suhrkamp Berlin 2022, ISBN 978-3-518-43068-2, 28.- Euro.

Der Autor arbeitet darin die Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit dieser Farbe heraus, ausgehend von einem Ausspruch des Malers Paul Cézanne, der um 1900 einmal gesagt habe, solange man nicht ein Grau gemalt habe, sei man kein Maler. Bekanntlich stellt Grau gerade in der Malerei eine große Herausforderung dar, hat seine ganz eigene Funktion.

Das Grau mit seinen vielen Schattierungen fasziniert den Zuseher vor allem im Schwarz-Weiß-Film, wo damit unendlich viele Stimmungen ausdrückbar sind. Etwa im französischen Streifen Hafen im Nebel (1938), ein Drama von Marcel Carné mit Jean Gabin und Michèle Morgan. Darin kommt Jean Gabin als Deserteur nach Le Havre, um von hier das Land zu verlassen. Aber er verliebt sich in die schöne Michèle Morgan. Die banale Handlung wird durch subtile Licht-Schatten-Szenen der Kamera  geadelt.

Fazit: Es ist – um mit Sloterdijk zu sprechen – nicht alles Grau in Grau, trostlos und öde. Dass sein Werk im April erscheint, dürfte ein kleiner Regiefehler sein. Günstiger wäre ein nebeliger Novembertag gewesen, ein Zeitpunkt, an dem man durch die Lektüre eine beginnende Winterdepression bekämpfen könnte.