„Ärzteauswanderung ist in der ­Statistik nicht erkennbar“

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Andreas Huss, halbjährlicher Vorsitzender der Österreichischen Gesundheitskasse, über die Entwicklung des ­österreichischen Gesundheitssystems, seine Stärken und Schwächen

Österreich gilt als das Land mit einem der besten Gesundheitssysteme Europas, ja eigentlich der ganzen Welt. Konnten wir diesen Status aufrechterhalten oder ist er uns mittlerweile abhandengekommen?
Andreas Huss: Wir können immer noch stolz auf unser Gesundheitssystem sein. Im internationalen Vergleich haben wir eine sehr gute Abdeckung der Bevölkerung mit Versicherungsschutz und es gibt nur einen sehr geringen Anteil an nicht erfüllten Versorgungsnotwendigkeiten. Es gibt ein dichtes Netz an niedergelassenen Ärzten, meist in Einzelordinationen, die Kassenversorgung als Sachleistung ohne Zuzahlung leisten. Viele Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Psychotherapeuten sind so organisiert, dass auch diese Leistungen als Sachleistung auf Kassenkosten erbracht werden. Außerdem haben wir hochentwickelte moderne Krankenanstalten, die akute Operationen, Behandlungen und Therapien umsetzen. Ob das Ganze wirklich bestmöglich organisiert wird, ist eine andere Frage. Da gibt es immer was zu schrauben und zu verbessern. Ich denke, wir sind an einem Punkt, an dem ein paar Reparaturen notwendig sind.

Andreas Huss ist Chef der ÖGK und zentraler Bildungs­sekretär der Gewerkschaft ­Bau-Holz (Bild: Privat)

In der Vorgängerregierung wurden gravierende Änderungen unseres Systems der Krankenkassen vorgenommen. Wie stehen Sie zu den Änderungen?
Huss: Von der schwarz–blauen Regierung unter Kurz und Strache wurde eine massive Machtverschiebung hin zu den Wirtschaftsvertretern umgesetzt, das war das hauptsächliche Ziel. In der Versicherung der Arbeitnehmer haben dadurch die Dienstgebervertreter die Selbstverwaltungsgremien gekapert und können so über die Versorgung ihrer Mitarbeiter bestimmen. Das führt die Selbstverwaltung ad absurdum und muss dringend repariert werden. Mit der Fusionierung der Gebietskrankenkassen wurden überdies die bestehenden Netzwerke der regional organisierten Gesundheitsversorgung auf Länderebene durchtrennt. In den Bundesländern gibt es jetzt bei vielen Themen keine regionalen Ansprechpartner mehr, die wirklich Entscheidungen treffen können. Das erzeugt lange Wege, die man bei besserer Organisation der ÖGK verhindern könnte.

Ursprünglich wurden uns seitens der damaligen Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein Einsparungen in Millionengrößenordnungen versprochen. Wie der Rechnungshof 2022 ermittelte, müssen wir nun im Gegenteil noch Geld dazuzahlen. Ist es das, was uns nun weiter bevorsteht, oder werden sich mittel- und langfristig doch noch Einsparungen herausstellen?
Huss: ÖVP und FPÖ haben hier unseriöse Politik betrieben und die Bevölkerung absichtlich hinters Licht geführt. Alle haben gewusst, dass diese Ankündigung der Patientenmilliarde ein Schmäh war. Wir haben das auch von Anfang an immer wieder gesagt, und der Rechnungshof hat uns damals schon recht gegeben. Bei einer derartig großen Fusion von neun Unternehmen auf ein Neues gibt es erstens große Gefahren des Scheiterns, diese Gefahr wurde von den politisch Verantwortlichen in Kauf genommen. Zweitens ist bei Fusionen in der Größenordnung ein großer monetärer und personeller Aufwand für die Abwicklung der Fusion einzukalkulieren, aber die Regierung hat das Gegenteil angekündigt. Das war unverantwortliche Fake-Politik. Aber jetzt müssen wir das Beste draus machen und gute Leistungen für die Versicherten bieten.

Die Corona-Pandemie hat teilweise seltsame Blüten getrieben. Es hat noch nie so viele „Experten“ gegeben, die ihren Senf dazugegeben haben, wie in diesem Fall. Trotzdem ist vieles nicht so gelaufen, wie es die Bürger erwartet und auch gewünscht haben. Angelpunkt sind u.a. auch die Mengen an millionenfachem, überzähligem Impfstoff, der seitens der Regierung mit Steuergeld gekauft wurde und nun verschenkt oder vernichtet werden muss. Was hätte man da anders machen müssen?
Huss: Im Zuge der Impfstoffankäufe wurden mehr als 38 Millionen Einzeldosen geliefert. Wir hätten viel mehr Corona-Impfstoffe in das internationale COVAX-Programm spenden müssen, mit dem finanzschwache Länder bei der Corona-Impfung unterstützt werden. Hier sollten wir die internationale Solidarität hochhalten. Da wurden bei weitem nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und Millionen Impfstoffe sind ungenutzt vernichtet worden.

Von namhaften Virologen kam nun das „Pandemie-Aus“. Dürfen wir dem glauben, oder weshalb gibt es immer noch, wie in Wien, Regelungen, die die Menschen in unserem Land einschränken?
Huss: Wenn die Pandemie beendet wird, haben wir immer noch eine Endemie, die saisonal auftreten wird, so ähnlich wie bei der Grippe. Corona ist eine zusätzliche Krankheit, die in unserem Gesundheitssystem eine bestimmte Krankheitslast hervorruft. Das muss man im Auge behalten. Was die Regelungen mit der Maske angeht, halte ich es mit Ludwig. Eine Maske ist kein Folterinstrument.

Sie wechseln nun jedes Halbjahr den Vorsitz des Verwaltungsrates der österreichischen Gesundheitskasse. Sollte diese Lösung beibehalten werden oder gäbe es da bessere Möglichkeiten, um Arbeitnehmer und -geber gleichermaßen einzubauen?
Huss: Ich finde, diese Regelung mit dem wechselnden Vorsitz ist ein Auslaufmodell, das sich nicht bewährt hat. In Zukunft soll der Vorsitz wieder permanent bei der Arbeitnehmer-Vertretung sein. Die Selbstverwaltung der versicherten Arbeitnehmer kann nur so respektvoll gewährleistet werden.

Ein ganz wesentliches Thema im Gesundheitswesen ist der Mangel an Pflegepersonal. Es können vorhandene Krankenbetten nicht genutzt werden, weil uns die Schwestern fehlen. Wie wäre dieses Problem Ihrer Meinung nach zu lösen?
Huss: Wir haben in den letzten Jahren viele gut ausgebildete Pflegekräfte verloren, weil sie in andere Branchen gewechselt sind. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Pflegeberuf ist sehr kurz, weil die Rahmenbedingungen oft nicht passen. Neben einer Verbesserung der Rahmenbedingungen bei den Dienstplänen und dem Gehalt sollte es meiner Ansicht nach auch eine Offensive geben, um bereits Ausgebildete in die Branche zurückzuholen.

Wir brauchen Wissenschaftler, ­genauso wie Mediziner mit hoher ­Sozialkompetenz für die Patienten.

Auch im Ärztebereich ist es nicht zum Besten bestellt. Immer mehr wandern ins Ausland ab, weil sie dort besser verdienen können. Wie könnte hier Abhilfe geschaffen werden?
Huss: Das mit der großen Auswanderungswelle ist in den Zahlen der Ärztekammer-Statistik nicht erkennbar. Vielmehr ist zu erkennen, dass es 2021 so viele neue Turnusärzte wie nie zuvor gegeben hat. Jedenfalls müssen wir darauf achten, dass genügend Nachwuchs für die öffentliche Gesundheitsversorgung nachkommt. Das muss Priorität haben für uns als Gesellschaft. Deshalb sollten wir wie in Deutschland eine Landarztquote einrichten, mit der junge Ärzte leichter einen Studienplatz bekommen, wenn sie sich vorstellen können, in schlecht versorgten Regionen in der Kassenversorgung mitzuhelfen.

Ein wesentliches Kriterium ist das Aufnahmeverfahren zum Medizinstudium. Die Prüfungen sollen nicht immer die am besten Geeigneten zu den Ausbildungsplätzen bringen. Wie könnte man die Eignung für eine medizinische Tätigkeit besser prüfen?
Huss: Im derzeitigen Aufnahmeverfahren zum Medizinstudium hatten wir jetzt jedes Jahr zirka zehnmal so viele Bewerber wie zu vergebende Studienplätze. Der Andrang zum Medizinstudium ist also riesig. Wenn man so eine große Auswahl hat, muss man trotzdem die richtigen Personen auswählen, oder zumindest den richtigen Mix, damit die gesellschaftlich notwendigen Aufgaben erfüllt werden können. Natürlich brauchen wir die „Oberchecker“, mit besten Ambitionen in der Wissenschaft, genauso wie junge Ärzte mit guter Ausbildung und der hohen Sozialkompetenz für die Zuwendungsmedizin direkt am Patienten. Hier sollte ein Mischverfahren entwickelt werden, das diesen Ansprüchen genügt. Derzeit gibt es ja beim Aufnahmeverfahren sogar so etwas wie eine besondere soziale Auswahl, weil fürs Durchkommen bestimmte teure Vorbereitungskurse fast Pflicht sind. Das können sich Kinder aus ärmeren Familien kaum leisten. Das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Kinder aus ärmeren Familien können sich die teueren Vorbereitungskurse für den Medizinstudium-Aufnahmetest kaum leisten.

Andererseits haben wir eine große Anzahl an deutschen „Numerus-Clausus-Flüchtlingen“. Welche Regelungen könnten hier innerhalb Europas getroffen werden?
Huss: Eine bestimmte Menge der Studienplätze ist für nicht-österreichische Studenten verfügbar. Das stärkt den europäischen Austausch und gleichzeitig können Österreicher auch woanders studieren. Das ist ein Zeichen für das Zusammenwachsen Europas. Dieser Austausch ist nicht die Ursache für Besetzungsprobleme, die liegen anderswo. Viel zu viele öffentlich ausgebildete Ärzte werden nie für die Bevölkerung versorgungswirksam, verschreiben sich der Privatmedizin und entziehen sich der öffentlichen Versorgung. Hier müssen wir ansetzen und das Wahlarztsystem mit den überbordenden Freiheiten regulieren. Wir haben ein Problem, weil der Privatmedizinsektor mit viel Geld die ärztlichen Ressourcen absaugt. Wenn man sich anschaut, dass die Privatversicherungen jährlich einen Gewinn von einer Milliarde Euro einfahren, dann ist es höchste Zeit, das Problem anzugehen, sonst ist es zu spät.

Was werden die künftigen Herausforderungen für das staatliche Gesundheitswesen sein, die auf uns zukommen? Und wie müssten wir uns darauf einstellen?
Huss: Die demografische Entwicklung wird unser Gesundheitssystem vor Herausforderungen stellen, die eine permanente Adaption der Rahmenbedingungen erfordern wird, um für alle eine gute Versorgung bieten zu können. In diesem Umfeld brauchen wir eine gewisse Bewegungsfreiheit, damit wir Verbesserungen auch wirklich auf den Boden bringen. Beim Ausbau der Primärversorgungszentren sehen wir, dass ein sehr gutes Konzept mit klaren Verbesserungen für die Bevölkerung nur langsam vorankommt, weil beharrende Kräfte eine zu starke Vetomacht haben. Wir müssen das System jetzt so stark aufstellen, dass wir für die Zukunft gerüstet sind.

Das Gespräch führte Walter Tributsch.

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