Autor: U.K. Bild: Heinrich Klaffs auf Foter
Erinnerungen eines Zeitzeugen
„Ein Augenblick voll Harmonie lässt uns wünschen, dass die Sekunde sich dehnt. Doch zumeist bleibt es Augenblick und flüchtiger Wunsch, denn die Unruhe, dem Geiste einst dienstbar, beherrscht uns und treibt uns umher. Ruhe und Schlaf zu fördern vermag Contergan. Dieses gefahrlose Medikament belastet den Leberstoffwechsel nicht, beeinflusst weder den Blutdruck noch den Kreislauf und wird auch von empfindlichen Patienten gut vertragen. Schlaf und Ruhe: Contergan, Contergan forte.“
Mit exakt diesen Worten bewarb der deutsche Pharmakonzern Chemie Grünenthal vor gut 60 Jahren sein Wundermittel Contergan als „die“ sichere, gefahrlose und zuverlässige Lösung für alle Alltagsprobleme, von Schlaflosigkeit, Unruhe, Angststörungen bis hin zur Schwangerschafts-Übelkeit und Bettnässen bei Kindern. Zugelassen im Oktober 1957 und rezeptfrei in der Apotheke erhältlich, wurde Contergan in kürzester Zeit der am meisten verkaufte Tranquilizer, es galt als „Schlafmittel des Jahrhunderts“. Nebenwirkungen oder Gefahren gab es keine, jedenfalls nicht nach den Tests und Zulassungsprüfungen, die damals für solch ein Medikament von den Behörden gefordert wurden.
Ein fataler Irrtum, wie wir heute wissen (siehe ZurZeit-Artikel vom 26. 11. 2021). Der Contergan-Wirkstoff Thalidomid schädigte den Fötus im Mutterleib in katastrophaler Weise, wenn die schwangere Frau Contergan im Zeitraum der 4. bis 8. Schwangerschaftswoche eingenommen hatte. Und das, obwohl Frauenärzte den Schwangeren Contergan als Mittel gegen die meist in diesem Zeitfenster auftretende Morgenübelkeit ausdrücklich empfahlen! Der genaue Wirkmechanismus wurde erst vor wenigen Jahren durch das Team um Professor Dr. Florian Bassermann von der TU München geklärt. Es sind zellinterne Bindungsprozesse an zwei bestimmte Proteinbausteine, die man seinerzeit weder kannte noch erforschen konnte. Damals war man froh, eine Alternative zu den beliebten, aber riskanten Schlafmitteln auf Barbiturat-Basis zu haben.
Das Ergebnis ist bekannt: Rund 10.000 Kinder wurden weltweit mit schwersten Missbildungen wie fehlenden Armen, Beinen, Händen, Ohren und Organdefekten geboren, etwa 100.000 Totgeburten werden zudem vermutet. Ein Großteil der Kinder verstarb schon während der ersten Lebensjahre, der Rest muss sein Leben mit massivsten Beeinträchtigungen meistern.
Wie aber konnte sich nun der Contergan-Skandal ungebremst zu einer solchen Dimension aufbauen? Schließlich galt Deutschland als führend in der pharmakologischen Forschung, und erste Indizien zu Contergan-verursachten Missbildungen tauchten schon nach gut einem Jahr auf.
Einer der Gründe war, dass die von Kinderärzten und Gynäkologen gemeldeten Inzidenzen als Einzelfälle abgetan und das bedrohliche Gesamtbild nicht erkannt wurde. Es gab, zumindest in Deutschland, keine zentrale Registrierung von Geburten mit schweren körperlichen Anomalien. Hier wirkte auch noch die Angst vor einer Neuauflage des berüchtigten „Euthanasie-Programms“ der Nazis mit, die derartige Fälle im Sinne der „Rassequalität“ erkennen und ausmerzen wollten.
Dann vermuteten Experten, u.a. der Bayreuther Kinderarzt Karl Beck, einen Zusammenhang mit radioaktiven Partikeln in der Atmosphäre, die durch die damals häufigen Atomwaffentests freigesetzt wurden. Eine Vorstellung, welche der Bevölkerung durchaus plausibel erschien.
Diese Hypothese führte schließlich zur Untersuchungskommission durch die Gesundheitsabteilung im Bundesministerium des Inneren (ein Gesundheitsministerium gab 1959 in Deutschland noch nicht) und einer Befragung des Frankfurter Medziners Prof. Dr. med. Hans Naujoks, der Vorsitzender der Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie war. Doch dieser, und auch die Bundesärztekammer, konnte keine Zunahme von Missgeburten feststellen. Basis für dieses, wie wir heute wissen, eklatante Fehlurteil war eine inkonstistente Datenbasis und die zwanghafte Fixierung auf Radioaktivität als möglicher Auslöser. Andere Ursachen wurden gar nicht erst erwogen.
Die beauftragten Mediziner sahen „den „Wald vor lauter Bäumen“ nicht.“, wie das Deutsche Ärzteblatt 2007 in seiner beachtenswerten Retrospektive zum Contergan-Skandal schrieb. „Sie vertrauten ausschließlich auf die „harten Fakten“ der Epidemiologie und die langjährige wissenschaftliche Statistik. Die nicht dazu passenden Einzelfälle wurden als Bestätigung der Regel interpretiert. … Eltern, die sich danach an die Gesundheitsbehörden wandten, konnten nun mit gutem Gewissen auf die offzielle Publikation hingewiesen werden. Die Öffentlichkeit war immunisiert, „die Angst vor Missbildungen“ wurde als übertrieben abgetan. Die Contergan-Katastrophe nahm ihren ungehinderten Lauf.“
Dass ein modernes, freigegebenes Medikament derartige Nebeneffekte haben könnte, konnte – oder wollte – 1960 niemand so recht glauben. Zu groß war die Fortschrittsgläubigkeit, zu einfach der alltägliche Griff zu irgendwelchen Wunderpillen der modernen Pharmazie. Selbst bei Alltagswehwehchen wurden Antibiotika ohne großes Zögern verordnet.
Den Stein ins Rollen brachten letztlich der Hamburger Arzt Widukind Lenz und der australische Gynäkologe William McBride mit ihren detaillierten empirischen Feldforschungen und schließlich am 26. November 1961 die Tageszeitung die Welt mit ihrem berühmten Artikel „Mißgeburten durch Tabletten?“
Der Rest ist bekannte Geschichte. Übrigens wird Thalidomid heute noch hergestellt und eingesetzt. Und zwar sehr erfolgreich als Mittel gegen das Multiple Myelom, eine Art des Knochenkrebes. Hier ist seine teratogene Wirkung, die in Contergan so viel Leid erzeugte, von großem Segen für den Patienten. Was bleibt ist, dass auch wissenschaftlich vermeintlich sichere Erkenntnis immer wieder hinterfragt werden muss. Und das ist nun mal ein Grundbaustein aufgeklärten Denkens.