Brüssel schweigt zu einem offensichtlichen Demokratiedefizit

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Autor: E.K.-L. Bild: Wikipedia/EU2017EE Estonian Presidency Lizenz: CC BY 2.0


Frankreichs autoritäre Verfassung ist der EU keinen Tadel wert

Beim sogenannten Budgetrecht handelt es sich um eine Kernkompetenz des vom Volk gewählten Parlaments. Dadurch haben vom Volk gewählten Abgeordneten die Möglichkeit, die Aktivitäten der Regierung zu steuern, indem sie dieser das für ihre Tätigkeit erforderliche Geld zuweisen. Dieses Geld, das ist die Summe der Steuern, die der Staat den Bürgern abverlangt.

Der Gedanke, dass der Steuerzahler darüber entscheidet, was mit dem von ihm an den Staat abgeführten Geld geschieht, ist alt. Bereits 1628 bestimmt die englische Petition of Right, das Parlament habe das Recht, über die Art und die Höhe von Steuern verbindliche Beschlüsse zu fassen. Wobei das Wahlrecht des einzelnen (männlichen) Bürgers vielerorts an dessen Steuerleistung gekoppelt ist.

Derart sind auch die USA entstanden. Weil die englischen Siedler in den britischen Kolonien Nordamerikas zwar Steuern zahlen müssen, aber im Londoner Parlament nicht vertreten sind, begehren sie auf. Ihr Motto No taxation without representation. Mit anderen Worten: Sie wollen über die Verwendung der ihnen auferlegten Steuergelder mitreden.

Stellen Sie sich vor, in Europa gäbe es einen Staat, wo nicht die Volksvertretung, sondern die Regierung nach eigenem Gutdünken die Steuermittel gleichsam wie ihr privates Vermögen verwendet. Also bestimmt, wieviel Geld sie für welche Zwecke verwendet. Ohne jede Mitsprache des Parlaments.

Könnte ein solches Land Mitglied der EU werden? Sicher nicht. Nun, die Wirklichkeit sieht anders aus.  Hier denkt man an eine Stelle in Jesu Bergpredigt: Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?

Denn EU-Kommission und EU-Parlament ahnden jede vermeintliche Abweichung von den zu Recht hochgehaltenen Grundsätzen wie Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat in kleineren Mitgliedstaaten wie Ungarn mit aller Härte, im Regelfall durch die Zurückhaltung von Geldern. Doch die Herrschaften in Brüssel und Straßburg übersehen den Balken in einem der größten Mitgliedstaaten, wir sprechen von Frankreich.

In Paris erklärt am Abend des 19. Oktober – mitten in der Debatte der Abgeordneten über den Budgetentwurf der Regierung – Macrons Premierministerin Élisabeth Borne die Debatte für beendet und den Regierungsentwurf über das Budget 2023 ohne Abstimmung in der Nationalversammlung als angenommen. Einfach so. Wie ist das möglich?

Ganz einfach, wenn man sich die französische Verfassung vom 4. Oktober 1958 samt deren Novellierungen anschaut. Dort lautet der Artikel 49 Absatz 3 wie folgt:

Der Premierminister kann nach Beratung des Ministerrates vor der Nationalversammlung die politische Verantwortung der Regierung für die Abstimmung über einen Haushaltsgesetzentwurf oder einen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung übernehmen. In diesem Falle gilt dieser Entwurf als angenommen, wenn nicht innerhalb der darauffolgenden vierundzwanzig Stunden ein Misstrauensantrag eingebracht und … angenommen wird.

Die übergangene Volksvertretung hat sohin nur die Möglichkeit, der Regierung das Misstrauen auszusprechen. Der Präsident kann darauf antworten, indem er Neuwahlen ausschreibt. Falls eine derartige Neuwahl wiederum keine Mehrheit für die Regierung erbringt, so kann das Spiel von Neuem beginnen und die Regierung darf neuerlich – wie es in der Verfassung zynisch heißt – die politische Verantwortung für ihren Budgetentwurf übernehmen. Ohne Mitwirkung der Volksvertreter.

Dieser Artikel 49 Absatz der französischen Verfassung ist ungefähr das Undemokratischste, was man sich vorstellen kann. Wenn diese Bestimmung genutzt wird, kann die Regierung ein Gesetz am Parlament vorbei beschließen und damit die vom Volk gewählten Abgeordneten einfach umgehen.

Und die EU schweigt …

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