Autor: E.K.-L. Bild: Wikipedia/Sinigagl Lizenz: CC BY-SA 4.0
Über die neue Chefin der italienischen Sozialdemokraten
Die renommierte „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) veröffentlicht am 27. Februar 2023 ein Porträt der neuen Chefin der italienischen Sozialdemokraten (Partito Democratico, PD), Elena Ethel Schlein. Unter dem Titel Neue Chefin für Italiens Linke: Elly Schlein ist die Antithese zu Giorgia Meloni – Mit Elly Schlein wählt der Partito Democratico eine politische Aktivistin mit Schweizer Wurzeln an seine Spitze. Mit ihr wird die grösste Oppositionspartei Italiens wohl einen pointiert linken Kurs einschlagen ist zu lesen:
„… Elly unterscheidet sich in fast allem von Giorgia. Sie lebt in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, ihr Vater ist Jude, weswegen sie immer wieder antisemitischen Attacken ausgesetzt ist, sie stammt aus einem bildungsbürgerlichen Milieu. Und sie verfügt nicht nur über den italienischen Pass, sondern auch über einen solchen der Vereinigten Staaten – und der Schweiz. Elly Schlein, Jahrgang 1985, wächst in Lugano im Tessin auf. Ihr Vater, ein Amerikaner, ist Professor für internationale Beziehungen an einer Privatuniversität, ihre italienische Mutter lehrt öffentliches Recht an der Università degli Studi dell’Insubria mit Sitzen in Varese und Como. Ihr Bruder Benjamin ist mittlerweile Mathematikprofessor an der Universität Zürich, ihre Schwester Susanna ist Diplomatin auf der italienischen Botschaft in Athen …“
Tatsächlich, der Unterschied zur derzeitigen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (46) könnte nicht größer sein: Meloni erblickt im römischen Arbeiterbezirk Garbatella das Licht der Welt, ihre aus Sizilien stammende Mutter Anna Paratore muss sie und ihre ältere Schwester Arianna allein über die Runden bringen, weil sich Vater Francesco aus dem Staub macht. Doch die hartnäckige Giorgia beißt sich durch, absolviert eine Hotelfachschule, erlernt dort Englisch, Französisch und Spanisch; bloß mit der deutschen Sprache steht sie nach eigenem Bekunden auf Kriegsfuß. Später arbeitet sie als Kellnerin und Kindermädchen, bevor sie Journalistin wird.
Bereits mit fünfzehn Jahren tritt sie der Fronte della Gioventù (Jugendorganisation des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano, MSI) bei. In den Nachfolgeorganisationen des MSI, also bei der Alleanza Nazionale und schließlich bei der Partei Fratelli d’Italia (dt. Brüder/Geschwister Italiens) macht sie Karriere, die sie bis zur Spitze der Regierung führt.
Während Giorgia Meloni von sich sagt: „Ich bin Giorgia, eine Frau, eine Mutter, Italienerin und Christin“ (Io sono Giorgia, sono una donna, sono una mamma, sono italiana, sono christiana), kontert Elly Schlein, die kinderlose Atheistin: „Ich liebe eine Frau, ich bin keine Mutter. Aber ich bin deswegen nicht weniger eine Frau“.
Elly Schlein (38) ist viel unterwegs, auch international. Kein Wunder, hat sie doch gleich drei Staatsbürgerschaften: USA, Schweiz, Italien. In Anlehnung an Carlo Goldonis Stück „Der Diener zwei Herren“ (ital. Il servitore di due padroni) könnte man sie als Magd dreier Herren bezeichnen. Freilich nur in übertragenem Sinn, gehört doch Schlein zur wohlhabenden Schicht der sogenannten Bobos (bourgeois-bohémien), die nicht auf Erwerbsarbeit angewiesen ist. Zweimal engagiert sich die Umtriebige als Freiwillige in den Wahlkampagnen von Barack Obama in den USA, 2013 beginnt sie mit Gleichgesinnten, die Linksopposition zu entern, man nennt sich zeitgeistig Occupy PD. Das ist ihr nun gelungen, sie führt die Partei.
Soziokulturell betrachtet sind Giorgia Meloni und Elena Ethel Schlein geradezu idealtypische Vertreterinnen zweier sogenannter Meta-Klassen, die in den Sozialwissenschaften unter den Namen anywheres und somewheres firmieren.
Die anywheres (im Sinne von „die Nirgendwos“) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar irgendwo wohnen – meist in einer Großstadt – aber so ortsungebunden sind, dass sie jederzeit umziehen könnten. Und das tun sie auch ziemlich häufig. Es handelt sich um wohlbestallte Kosmopoliten und Globetrotter, aber auch Künstler, Moralisten und Latte-Macchiato-Trinker. Anywheres sind die Nutznießer der globalen Urbanisierung. Gut vernetzt, repräsentieren sie die kulturelle Hegemonie im Sinne des KPI-Theoretikers Antonio Gramsci. Mit einem Wort: eher entwurzelte, sich den einfachen Menschen in jeder Hinsicht überlegen dünkende Zeitgenossen.
Die somewheres (etwa „die Dagebliebenen“) sind hingegen diejenigen, die aus vielfältigen, sei aus materiellen Gründen oder aus Verbundenheit mit der vertrauten Umgebung an einem Ort geblieben sind. Mitunter die Bewohner von Hochhaus-Ghettos, in denen der Beton bröckelt. Oder von Kleinstädten, in denen das Schwimmbad längst geschlossen und die Fußgängerzone seit den 80er Jahren nicht erneuert wurde. In Vororten, die irgendwo im Nirgendwo ehemaliger Industriegebiete liegen, Bewohner von Dörfern, in denen das Wirtshaus zu und der nächste Supermarkt weit entfernt ist, in Kleinstädten, in denen der Zug durchfährt.
Im Gegensatz zu den somewheres, die sich über einen Ort, eine gesellschaftliche Gruppe, über die Zugehörigkeit zu ihrem Volk definieren, sind anywheres Menschen mit wechselnder Identität, ewige Wanderer, die nirgends so wirklich dazugehören, Weltbürger ohne richtige Heimat. Sie tendieren dazu, Freiheit und Autonomie zu schätzen, sind aber blind gegenüber den eigenen Privilegien. Sie genießen die Vorteile einer Gesellschaft, in der Geld wichtig ist. Weil dies im Grunde genommen der einzige Wert ist, den sie anerkennen.
Für den italienischen Durchschnittsbürger sollte die Wahl zwischen Giorgia Meloni und Elena Ethel Schlein nicht übermäßig schwerfallen.