Kommt es zur Finnlandisierung der Ukraine?

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Autor: E.K.-L. Bild: Wikipedia/r Published by Posti- ja telelaitos Lizenz: public domain


Neutralität und Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft als denkbare Alternative

Angesichts der Lage in der Ukraine ist in den letzten Tagen davon die Rede, das Land am Dnjepr könnte in Hinkunft von einem Beitritt zur NATO absehen und ein dauernd neutraler Staat werden. Diesbezügliche Anzeichen gibt es sogar aus dem Mund von Präsident Wolodymyr Selenski (nebenbei: Der Vorname Wolodymyr bedeutet Wladimir; sohin teilen sich Selenski und sein Kontrahent Putin zumindest den Vornamen). Bereits davor bringt Emmanuel Macron den Begriff Finnlandisierung ins Spiel, weil Finnland und die Ukraine geographisch betrachtet durchaus zu vergleichen sind: Beide haben eine lange Grenze zum östlichen Nachbarn Russland, welcher militärisch übermächtig ist.

Finnlandisierung bedeutet vereinfacht ausgedrückt: Der kleine Nachbar vermag seine begrenzte Unabhängigkeit nur dann zu behaupten, wenn seine Neutralität eine besondere Ausprägung hat, nämlich eine Schieflage zugunsten Russlands. Noch eine Parallele fällt ins Auge: Finnland und die Ukraine sind lange Zeit hindurch Teil des zaristischen Russlands, die Ukraine sogar noch danach während der kommunistischen Herrschaftsperiode. Beide Staaten konnten bloß während einer Schwächephase Russlands ihre staatliche Unabhängigkeit erringen.

Um zu verstehen, was eine Finnlandisierung für die künftige Ukraine bedeutet, ist es notwendig, die Geschichte Finnlands während dieser speziellen Form der Neutralität zu beleuchten.

Bekanntlich gehört Finnland nach dem geheimen Zusatzprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt vom August 1939 zur sowjetischen Interessenssphäre. Deswegen marschieren sowjetische Truppen in die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Anders in Finnland: Im sogenannten Winterkrieg 1939/40 erzielt die vergleichsweise winzige Armee Finnlands Abwehrerfolge, setzt der durch Stalins Säuberungen geschwächten Roten Armee ordentlich zu. Erst nach einem halben Jahr kommt die Übermacht Moskaus zur Geltung und Helsinki muss um einen Waffenstillstand bitten, Gebietsverluste hinnehmen, bleibt aber von einer Besetzung verschont.

Ähnlich ist die Situation nach dem Fortsetzungskrieg auf deutscher Seite im Rahmen des Unternehmens Barbarossa. Auch 1944 kommt es zu keiner Okkupation Finnlands, aber nun beginnt eine bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion dauernde Periode, die unter dem Begriff Finnlandisierung bekannt ist, sohin eine besondere Rücksichtnahme auf die Gefühle und Wünsche Moskaus.

Besonders unter den Staatspräsidenten Juho Paasikivi (1946 bis 1956) sowie Urho Kekkonen (1956 bis 1981) hat Finnland zumindest außenpolitisch eher den Status eines Sowjet-Vasallen. Kekkonen, welcher der bäuerlichen Zentrumspartei angehört und beinahe diktatorisch regiert, beteiligt die finnischen Kommunisten an der Regierung. Man munkelt gar, Kekkonen sei jahrelang für den sowjetischen Geheimdienst KGB aktiv gewesen.

Frappant ist der vorauseilende Gehorsam Helsinkis. Als das schwedische Fernsehen einen Film ausstrahlt, der auf Alexander Solschenizyns Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch beruht, schaltet Finnland die Sender auf den Ålandsinseln (eine Inselgruppe im Bottnischen Meerbusen  zwischen Schweden und Finnland) ab, weil die Zensurbehörde in Helsinki den Streifen als sowjetfeindlich verbietet. Der Roman Archipel Gulag, gleichfalls von Solschenizyn, darf nicht in finnischer Sprache veröffentlicht werden – Staatschef Kekkonen legt sich quer. Aus Besorgnis, damit Moskau zu vergrämen.

In den Schulbüchern darf nichts stehen, was die russischen Freunde (beide Länder schließen 1948 einen Freundschaftsvertrag) verärgern könnte. Selbst im Kulturleben existiert eine strenge Zensur: Schauspieler und Kabarettisten, die sich kleine Witze über den Nachbarn im Osten erlauben, kriegen danach keine Rollen mehr.

Umso mehr freuen sich Leonid Breschnew und sein überaltertes Politbüro über die rund eintausend Festveranstaltungen, die 1970 in Finnland begangen werden. Anlass dafür ist die Wiederkehr des 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin, dem Begründer der Sowjetunion.

Andererseits ist zwischen 1945 und 1979 ein rasantes Aufblühen der Wirtschaft Finnlands zu verzeichnen – auf Grundlage der westlichen Marktwirtschaft. Man entwickelt sich für den Nachbarn im Osten zu einer Art Feinkostladen, der freilich in erster Linie der Nomenklatura, also der sowjetischen KP-Funktionärsschicht zugutekommt.

Was die Ukraine angeht, so wäre eine Neutralität nach finnischem Muster das kleinste Übel. Andere Szenarien – Vasallenstaat à la Weißrussland oder gar gänzliche Einverleibung in die Russische Föderation – sind wahrscheinlich nicht so ganz nach dem Geschmack der Bürger der Ukraine.

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